BFH: Organschaft, erneute EuGH-Vorlage

Dem EuGH werden folgende Fragen zur Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mit­gliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (Richtlinie 77/388/EWG) zur Vorabentscheidung vorgelegt:

  1. Führt die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuerpflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG dazu, dass entgelt­liche Leistungen zwischen diesen Personen nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unterliegen?
  2. Unterliegen entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen jedenfalls dann dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer, wenn der Leistungs­empfänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da ansonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht?

UStG § 2 Abs. 2 Nr. 2
Richtlinie 77/388/EWG Art. 2 Nr. 1, Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2

BFH-Beschluss vom 26.1.2023, V R 20/22 (V R 40/19) (veröffentlicht am 23.3.2023)

Vorinstanz: Niedersächsisches FG vom 16.10.2019, 5 K 309/17 = SIS 19 22 31

I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist eine Stiftung öffentlichen Rechts. Sie ist Trägerin einer Universität, die auch einen Bereich Universitäts­medizin unterhält. Die Klägerin erbringt als Steuerpflichtige im Sinne (i.S.) von Art. 4 Abs. 1 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Um­satzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflich­tige Bemessungsgrundlage (Richtlinie 77/388/EWG) im Rahmen ihrer wirt­schaftlichen Tätigkeit Dienstleistungen gegen Entgelt i.S. von Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie. Soweit die entgeltlichen Dienstleistungen auf den Kranken­hausbetrieb entfallen, sind sie entsprechend Art. 13 Teil A Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG steuerfrei. Zugleich nimmt die Klägerin als juristische Person des öffentlichen Rechts (Einrichtung des öffentlichen Rechts) hoheit­liche Aufgaben wahr, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der Richtlinie 77/388/EWG nicht als Steuerpflichtige gilt.

Die Klägerin ist entsprechend einer verbindlichen Auskunft, die der Beklagte und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) gemäß § 89 Abs. 2 der Abgabenord­nung (AO) erteilt hat, nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) Organträgerin der U‑GmbH.

Die U‑GmbH erbrachte im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeit i.S. von Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG für die Klägerin gegen Entgelt Reini­gungs‑, Hygiene- und Wäschereileistungen sowie Patiententransportdienstleis­tungen. Die Reinigungsleistungen erbrachte die U‑GmbH in den Räumen der Klägerin. Sie umfassten den gesamten Gebäudekomplex des Bereichs Univer­sitätsmedizin, zu dem neben Patientenzimmern, Fluren, Operationssälen auch Hörsäle und Labore gehören. Während der eigentliche Krankenhausbereich der Versorgung der Patienten diente und damit dem wirtschaftlichen Tätigkeitsbe­reich der Klägerin zuzuordnen war, in dem sie als Steuerpflichtige handelt, wurden die Hörsäle, Labore und andere Räume für die Ausbildung der Studie­renden und damit für den hoheitlichen Bereich der Klägerin genutzt, für den sie nicht als Steuerpflichtige gilt. Der Anteil des hoheitlichen Bereichs der zu reinigenden Fläche betrug 7,6 % der Gesamtfläche. Die U‑GmbH erhielt für ih­re Dienstleistungen von der Klägerin im Jahr 2005 (Streitjahr) eine Vergütung von insgesamt … €.

Im Anschluss an eine Außenprüfung ging das FA in einem geänderten Umsatz­steuerbescheid 2005 vom 03.11.2015 davon aus, dass es sich bei den Betrie­ben der Klägerin um ein einheitliches Unternehmen handelt, für das nur eine Umsatzsteuererklärung abzugeben und dementsprechend nur ein Umsatzsteu­erbescheid zu erteilen sei. Das FA sah dabei die von der U‑GmbH für die Klä­gerin erbrachten Reinigungsleistungen als Umsätze an, die innerhalb der zwi­schen der Klägerin und der U‑GmbH bestehenden Organschaft erbracht und damit nichtsteuerbar waren. Soweit jedoch die Reinigungsleistungen für den Hoheitsbereich der Klägerin erfolgten, dienten sie einer unternehmensfremden Tätigkeit und lösten eine unentgeltliche Wertabgabe gemäß § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG (Art. 6 Abs. 2 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG) bei der Klägerin aus. Demgemäß ging das FA unter Berücksichtigung des auf den Hoheitsbereich entfallenden Flächenanteils von 7,6 % davon aus, dass von der Gesamtvergü­tung für die von der U‑GmbH an die Klägerin erbrachten Reinigungsleistungen ein Teilbetrag in Höhe von … € auf die Reinigung der hoheitlich genutzten Flächen entfiel. Abzüglich eines Gewinnzuschlags, den das FA mit … € bezif­ferte, errechnete es eine Bemessungsgrundlage für die unentgeltliche Wertab­gabe in Höhe von … € und damit eine um … € höhere Umsatzsteuer. Der hier­gegen eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.

Demgegenüber gab das Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 881 veröffentlichten Urteil der Klage statt. Nach seinem Urteil liegt eine Organschaft vor, die zur Zusammenfassung von Klägerin als Organträgerin und U‑GmbH als Organgesellschaft zu einem Unternehmen führt. Diese Organschaft erstrecke sich auch auf den Hoheitsbereich der Kläge­rin. Die Voraussetzungen einer unentgeltlichen Wertabgabe nach § 3 Abs. 9a Nr. 2 UStG lägen aber nicht vor. Hiergegen wendet sich das FA mit seiner Re­vision.

Der Senat hat im Revisionsverfahren das Verfahren ausgesetzt und mit Be­schluss vom 07.05.2020 ‑ V R 40/19 (Sammlung der Entscheidungen des Bun­desfinanzhofs ‑‑BFHE‑‑ 270, 166; im Folgenden: erstes Vorabentscheidungs­ersuchen) zwei Fragen dem Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) zur Vorabentscheidung vorgelegt. Hierauf hat der EuGH mit seinem Urteil Finanz­amt T vom 01.12.2022 ‑ C‑269/20 (EU:C:2022:944) wie folgt geantwortet:

"1. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der [Richtlinie 77/388/EWG] ist dahin aus­zulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unab­hängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organi­satorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträ­ger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.

2. Das Unionsrecht ist dahin auszulegen, dass im Fall einer Einheit, die die einzige Steuerpflichtige einer Gruppe von Personen ist, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, und die zum einen wirtschaftliche Tätigkeiten ausübt, für die sie der Steuer unterliegt, und zum anderen Tätigkeiten im Rahmen der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben, für die sie gemäß Art. 4 Abs. 5 der [Richtlinie 77/388/EWG] nicht als mehrwertsteuerpflichtig gilt, die Erbringung einer Dienstleistung im Zusammenhang mit dieser hoheitlichen Tätigkeit durch ein Mitglied dieser Gruppe nicht gemäß Art. 6 Abs. 2 Buchst. b dieser Richtlinie besteuert werden darf."

Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Klägerin sieht sich durch das EuGH-Urteil Finanzamt T (EU:C:2022:944) in ihrer Rechtsauffas­sung bestätigt. Sie weist zudem darauf hin, dass eine richtlinienkonforme Aus­legung des nationalen Rechts in der Weise, dass Leistungen der Organgesell­schaft an den Organträger steuerbar seien, ausgeschlossen sei. Das FA wendet sich gegen die Ausführungen des EuGH zur Entnahmebesteuerung.

II. Der Senat legt dem EuGH die in dem Tenor bezeichneten Fragen zur Ausle­gung des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG vor und setzt das Verfahren bis zur Entscheidung durch den EuGH aus.

1. Rechtlicher Rahmen

a) Unionsrecht

Art. 2 der Richtlinie 77/388/EWG bestimmte:

"Der Mehrwertsteuer unterliegen:

1. Lieferungen von Gegenständen und Dienstleistungen, die ein Steuerpflichti­ger als solcher im Inland gegen Entgelt ausführt; ..."

Art. 4 der Richtlinie 77/388/EWG sah vor:

"(1) Als Steuerpflichtiger gilt, wer eine der in Absatz 2 genannten wirtschaftli­chen Tätigkeiten selbständig und unabhängig von ihrem Ort ausübt, gleichgül­tig zu welchem Zweck und mit welchem Ergebnis.
...
(4) Der in Absatz 1 verwendete Begriff 'selbständig' schließt die Lohn- und Ge­haltsempfänger und sonstige Personen von der Besteuerung aus, soweit sie an ihren Arbeitgeber durch einen Arbeitsvertrag oder ein sonstiges Rechtsverhält­nis gebunden sind, das hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und des Arbeits­entgelts sowie der Verantwortlichkeit des Arbeitgebers ein Verhältnis der Un­terordnung schafft.

Vorbehaltlich der Konsultation nach Artikel 29 steht es jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behan­deln. ..."

Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG regelte:

"Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfa­chen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen fest­setzen, von der Steuer:
...
b) die Krankenhausbehandlung und die ärztliche Heilbehandlung sowie die mit ihnen eng verbundenen Umsätze, die von Einrichtungen des öffentlichen Rechts ... durchgeführt beziehungsweise bewirkt werden; ..."

Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG sah vor:

"Soweit die Gegenstände und Dienstleistungen für Zwecke seiner besteuerten Umsätze verwendet werden, ist der Steuerpflichtige befugt, von der von ihm geschuldeten Steuer folgende Beträge abzuziehen:

a) die geschuldete oder entrichtete Mehrwertsteuer für Gegenstände und Dienstleistungen, die ihm von einem anderen Steuerpflichtigen geliefert wur­den oder geliefert werden bzw. erbracht wurden oder erbracht werden, ..."

b) Nationales Recht

§ 2 Abs. 2 UStG bestimmt:

"Die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit wird nicht selbständig ausgeübt,

1. soweit natürliche Personen, einzeln oder zusammengeschlossen, einem Un­ternehmen so eingegliedert sind, dass sie den Weisungen des Unternehmers zu folgen verpflichtet sind,

2. wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Ver­hältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmenstei­len beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behan­deln. ..."
§ 4 UStG regelte:

"Von den unter § 1 Abs. 1 Nr. 1 fallenden Umsätzen sind steuerfrei:

...
16. die mit dem Betrieb der Krankenhäuser ... eng verbundenen Umsätze, wenn

a) diese Einrichtungen von juristischen Personen des öffentlichen Rechts be­trieben werden ..."
§ 15 Abs. 2 UStG sieht vor:

"Vom Vorsteuerabzug ausgeschlossen ist die Steuer für die Lieferungen, die Einfuhr und den innergemeinschaftlichen Erwerb von Gegenständen sowie für die sonstigen Leistungen, die der Unternehmer zur Ausführung folgender Um­sätze verwendet:

1. steuerfreie Umsätze; ..."

2. Erforderlichkeit eines zweiten Vorabentscheidungsersuchens

a) Erstes und zweites Vorabentscheidungsersuchen

Das zweite Vorabentscheidungsersuchen in diesem Rechtsstreit bezieht sich auf entgeltliche Leistungen zwischen den Personen, die i.S. von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG eng miteinander verbunden sind und damit auf Umsätze zwischen Mitgliedern einer Mehrwertsteuergruppe (soge­nannte Innenumsätze). Zu entscheiden ist, ob derartige Innenumsätze dem Anwendungsbereich der Steuer i.S. von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG unterliegen und sie daher steuerbar sind oder ob sie dem Anwendungsbereich nicht unterliegen und sie daher als nicht steuerbar anzusehen sind.

Durch das erste Vorabentscheidungsersuchen war zu klären, ob die nationale Regelung zur Organschaft überhaupt unionsrechtskonform ist und ob es zu ei­ner Entnahmebesteuerung kommt. Dabei hatte der Senat zugrunde gelegt, dass Innenumsätze nicht dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unter­liegen und daher nicht steuerbar sind. Dies entsprach seiner ständigen Recht­sprechung (vergleiche ‑‑vgl.‑‑ zum Beispiel ‑‑z.B.‑‑ Urteil des Bundesfinanz­hofs ‑‑BFH‑‑ vom 17.07.1952 ‑ V 17/52 S, BFHE 56, 604, Bundessteuerblatt ‑‑BStBl‑‑ III 1952, 234), an der er bis zuletzt festgehalten hat (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 15.12.2016 ‑ V R 14/16, BFHE 256, 562, BStBl II 2017, 600, Randziffer ‑‑Rz‑‑ 17).

Auf dieser Grundlage war durch das erste Vorabentscheidungsersuchen zu klä­ren, ob die nationale Regelung zur Organschaft überhaupt unionsrechtskon­form ist und ob es zu einer Entnahmebesteuerung kommt. Nachdem der EuGH diese Fragen in seinem Urteil Finanzamt T (EU:C:2022:944) geklärt hat und der Senat im Hinblick auf dieses Urteil davon ausgeht, dass die nationale Re­gelung zur Organschaft dem Grunde nach unionsrechtskonform ist und es im Streitfall zu keiner Entnahmebesteuerung kommt, stellen sich aber aufgrund der EuGH-Urteile Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie vom 01.12.2022 ‑ C‑141/20 (EU:C:2022:943) und Finanzamt T (EU:C:2022:944) nunmehr die jetzigen Vorlagefragen, mit denen für den Streitfall zu klären ist, ob Innenum­sätze entgegen der ständigen BFH-Rechtsprechung dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen und damit steuerbar sind.

Danach bezieht sich das zweite Vorabentscheidungsersuchen auf andere Fra­gen als das erste Vorabentscheidungsersuchen (vgl. zu den Voraussetzungen eines erneuten Vorabentscheidungsersuchens in derselben Rechtssache EuGH-Urteil Consorzio Italian Management e Catania Multiservizi vom 06.10.2021 ‑ C‑561/19, EU:C:2021:799, Antwort, Rz 33, 38 und 41).

b) Zur ersten Vorlagefrage

Zweifel daran, ob die Zusammenfassung mehrerer Personen zu einem Steuer­pflichtigen nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG dazu führt, dass entgeltliche Leistungen zwischen diesen Personen nicht dem An­wendungsbereich der Mehrwertsteuer nach Art. 2 Nr. 1 dieser Richtlinie unter­liegen, ergeben sich aus dem EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Dia­konie (EU:C:2022:943).

Ausgehend von der Feststellung, dass i.S. von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG "eine Leistung nur dann steuerbar [ist], wenn zwischen dem Leistenden und dem Leistungsempfänger ein Rechtsverhältnis besteht" (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 77), ist zur "Klärung der Frage, ob ein solches Rechtsverhältnis zwischen einem Mitglied einer Mehrwertsteuergruppe und den anderen Mitgliedern dieser Gruppe ein­schließlich ihres Organträgers besteht, so dass die von diesem Mitglied er­brachten Leistungen der Mehrwertsteuer unterliegen, ... zu untersuchen, ob dieses Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht" (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 78). Ist daher für den konkreten Streitfall zu bejahen, dass das Mitglied einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgeht (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Dia­konie, EU:C:2022:943, Rz 79), ergibt sich aus Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG nicht, dass ein Mitglied, das nicht der Organträger ist, aufgrund seiner bloßen Zugehörigkeit zu der Gruppe keine selbständigen wirt­schaftlichen Tätigkeiten ausübt (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 80). Dem entspricht es, dass der EuGH für den Streitfall von einer gegen Entgelt erbrachten Leistung der U‑GmbH ausgegan­gen ist (EuGH-Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 60 f.).

Die vorstehende Betrachtung spricht zwar für die Steuerbarkeit der Leistun­gen, die ein Gruppenmitglied an ein anderes Gruppenmitglied erbringt, beant­wortet aber die erste Vorlagefrage gleichwohl nicht eindeutig, was eine Ent­scheidung des EuGH hierzu erforderlich macht.

c) Zur zweiten Vorlagefrage

Die Zweifel, ob entgeltliche Leistungen zwischen den nach Art. 4 Abs. 4 Unter­abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG verbundenen Personen jedenfalls dann dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen, wenn der Leistungsemp­fänger nicht (oder nur teilweise) zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, da an­sonsten die Gefahr von Steuerverlusten besteht, ergeben sich daraus, dass der EuGH für die Bestimmung des Organträgers zum einzigen Steuerpflichti­gen der in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 dieser Richtlinie genannten Gruppe vor­aussetzt, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt (EuGH-Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, erste Antwort). Dabei weist der EuGH darauf hin, dass sich die Erklärungspflicht des Organträgers auf die Leis­tungen erstreckt, die von allen Mitgliedern und an alle Mitglieder der Mehr­wertsteuergruppe erbracht werden (EuGH-Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 51). Dies kann sich auch auf die Leistungen beziehen, die von einem Mit­glied an ein anderes Mitglied der Mehrwertsteuergruppe erbracht werden. Da­mit stellt sich die Frage, ob die bisher vom BFH angenommene Nichtsteuer­barkeit derartiger Innenumsätze zu einer Gefahr von Steuerverlusten führt, zu denen es nach dem EuGH-Urteil Finanzamt T (EU:C:2022:944) nicht kommen darf.

Für die Frage, ob eine Gefahr von Steuerverlusten gegeben ist, können zwei Steueransprüche miteinander zu vergleichen sein, die sich auf die Rechtslage ohne und mit Organschaft entsprechend Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtli­nie 77/388/EWG beziehen. Dabei kann es zur Gefahr von Steuerverlusten füh­ren, wenn das Gruppenmitglied, das Empfänger des Innenumsatzes ist, nicht zum (vollen) Vorsteuerabzug berechtigt ist.

Denn in dem ersten Fall der Vergleichsbetrachtung (keine Organschaft/keine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen) entsteht ein Steueranspruch, der zu keinem Vorsteuerabzug führt. Demgegenüber unterbleibt im zweiten Fall der Vergleichsbetrachtung (Organschaft mit Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze) von vornherein die Entstehung eines Steueranspruchs.

Die Gefahr von Steuerverlusten wird auch nicht durch die Haftung der Organ­gesellschaft nach § 73 AO für die Steuern des Organträgers gebannt. Sind In­nenumsätze nicht steuerbar, scheidet eine Haftung bereits mangels Steuerent­stehung aus.

3. Keine Klärung durch die bisherige Rechtsprechung

Die Vorlagefragen sind nicht als geklärt anzusehen.

a) Unterschiedliche Auffassungen der Generalanwälte

Mehrere Generalanwälte haben in ihren Schlussanträgen unterschiedliche Auf­fassungen zu der Frage vertreten, ob Innenumsätze zwischen den Gruppen­mitgliedern dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen und damit steu­erbar sind.

So sollen einerseits entgeltliche Umsätze, die zwischen den einzelnen Mitglie­dern einer Mehrwertsteuergruppe bewirkt werden, als Insichgeschäfte der Gruppe gelten und demzufolge mehrwertsteuerrechtlich nicht existent sein (Schlussanträge des Generalanwalts Jääskinen in den Rechtssachen Kommis­sion/Irland vom 27.11.2012 ‑ C‑85/11, EU:C:2012:753, Rz 42, und Kommis­sion/Schweden vom 27.11.2012 ‑ C‑480/10, EU:C:2012:751, Rz 40; Schluss­anträge des Generalanwalts Mengozzi in den Rechtssachen Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt vom 26.03.2015 ‑ C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:212, Rz 49). Sie böten keinen Anlass für die Erhebung oder Ver­rechnung von Mehrwertsteuer (Schlussanträge des Generalanwalts van Gerven in der Rechtssache Polysar Investments Netherlands vom 24.04.1991 ‑ C‑60/90, EU:C:1991:171, Rz 9).

Andererseits sollen die Innenumsätze zwischen den Gruppenmitgliedern dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen und damit steuerbar sein (Schluss­anträge der Generalanwältin Medina in der Rechtssache Finanzamt T vom 27.01.2022 ‑ C‑269/20, EU:C:2022:60, Rz 36 f., und in der Rechtssache Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie vom 13.01.2022 ‑ C‑141/20, EU:C:2022:11, Rz 64 und 73 mit Berechnungsbeispiel).

b) EuGH-Rechtsprechung

Aus der bisherigen Rechtsprechung des EuGH ergibt sich keine eindeutige Antwort zur Steuerbarkeit von Innenumsätzen. Der EuGH hat zwar bisher un­ter Hinweis auf die Erwägungen der Kommission entschieden, dass der Uni­onsgesetzgeber durch den Erlass von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG den Mitgliedstaaten ermöglichen wollte, aus Gründen der Verwal­tungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche die Eigen­schaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der rein recht­lichen Selbständigkeit zu knüpfen (EuGH-Urteile Kommission/Schweden vom 25.04.2013 ‑ C‑480/10, EU:C:2013:263, Rz 37, und Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt vom 16.07.2015 ‑ C‑108/14 und C‑109/14, EU:C:2015:496, Rz 40). Allerdings war er mit der Frage, ob Umsätze zwischen den Gruppenmitgliedern dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen, noch nicht in entscheidungserheblicher Weise befasst (vgl. EuGH-Urteile Ampliscientifica und Amplifin vom 22.05.2008 ‑ C‑162/07, EU:C:2008:301; Kommission/Irland vom 09.04.2013 ‑ C‑85/11, EU:C:2013:217; Kommission/Schweden, EU:C:2013:263; Skandia America (USA), filial Sverige, vom 17.09.2014 ‑ C‑7/13, EU:C:2014:2225; Larentia + Minerva und Marenave Schiffahrt, EU:C:2015:496; Kaplan International Colleges UK vom 18.11.2020 ‑ C‑77/19, EU:C:2020:934; Danske Bank vom 11.03.2021 ‑ C‑812/19, EU:C:2021:196; Finanzamt für Körperschaften Berlin vom 15.04.2021 ‑ C‑868/19, EU:C:2021:285).

4. Beurteilung durch das vorlegende Gericht

Bei der Auslegung einer unionsrechtlichen Vorschrift sind nicht nur ihr Wort­laut, sondern auch ihr Kontext und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden. Ferner folgt aus den Anforde­rungen sowohl der einheitlichen Anwendung des Unionsrechts als auch des Gleichheitsgrundsatzes, dass die Begriffe einer unionsrechtlichen Bestimmung, die für die Ermittlung ihres Sinnes und ihrer Bedeutung nicht ausdrücklich auf das Recht der Mitgliedstaaten verweisen, in der Regel in der gesamten Euro­päischen Union eine autonome und einheitliche Auslegung erhalten müssen (EuGH-Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 35 f.). Auf dieser Grundlage spricht einiges dafür, dass Innenumsätze ‑‑anders als bisher vom BFH ange­nommen‑‑ dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer unterliegen und da­mit steuerbar sind.

a) Wortlaut

Nach dem Wortlaut von Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG ist für die Steuerbarkeit des Umsatzes nicht danach zu unterscheiden, ob das Mitglied einer Gruppe i.S. von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG eine entgeltliche Leistung an einen Dritten, der nicht der Gruppe angehört (Außen­umsätze), oder an ein anderes Gruppenmitglied (Innenumsätze) erbringt. Dies spricht für eine Steuerbarkeit der Innenumsätze.

Die in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG angeordnete Rechtsfolge der Zusammenfassung zu einem Steuerpflichtigen lässt demge­genüber gleichermaßen die Annahme einer Steuerbarkeit wie auch die einer Nichtsteuerbarkeit zu.

b) Entstehungsgeschichte

aa) Frühere Regelungen des Unionsrechts

Der Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG beruht auf Anhang A Nr. 2 zu Art. 4 der Zweiten Richtlinie 67/228/EWG des Rates vom 11.04.1967 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaa­ten über die Umsatzsteuern ‑ Struktur und Anwendungsmodalitäten des ge­meinsamen Mehrwertsteuersystems. Dieser gestattete es den Mitgliedstaaten, "Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch finanzielle, wirtschaftli­che und organisatorische Beziehungen untereinander verbunden sind, nicht getrennt als mehrere Steuerpflichtige, sondern zusammen als einen Steuer­pflichtigen zu behandeln". Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG führte dies auf der Grundlage eines redaktionell geänderten Wortlauts fort (EuGH-Urteil Kommission/Irland, EU:C:2013:217, Rz 39) und stellte es den Mitgliedstaaten frei, die durch die vorstehenden Beziehungen verbundenen Personen "zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln".

bb) Zweck der Ermächtigung

Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG ermöglichte damit den Mitgliedstaaten, Regelungen wie die des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG, der schon vor der Harmonisierung im nationalen Recht bestand, weiter beizubehalten. So ging die nationale Rechtsprechung auf dieser Grundlage ‑‑weiterhin‑‑ davon aus, dass Innenumsätze nicht steuerbar waren (z.B. BFH-Urteile vom 18.12.1996 ‑ XI R 25/94, BFHE 182, 392, BStBl II 1997, 441, unter II.1.; vom 03.04.2003 ‑ V R 63/01, BFHE 202, 79, BStBl II 2004, 434, unter II.1.; in BFHE 256, 562, BStBl II 2017, 600, Rz 17, und vom 18.09.2019 ‑ XI R 39/17, Sammlung amtlich nicht veröffentlichter Entscheidungen des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH/NV‑‑ 2020, 246, Rz 26).

cc) Entfallen des Sachgrundes für die Nichtsteuerbarkeit

Allerdings war der ursprüngliche Zweck der nationalen Organschaftsregelung bereits durch die Einführung des neuen Systems mit Vorsteuerabzug im natio­nalen Recht seit 1968 entfallen und könnte damit auch im Hinblick auf den Wortlaut der Vorschrift die Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze nicht mehr rechtfertigen.

Die Annahme der Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze beruhte auf der Be­deutung, die der Organschaft nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG vor der Einführung des Vorsteuerabzugs durch die Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern zukam. Damals war Kernstück der im nationalen Recht geregelten Organschaft die Nichtsteuerbarkeit der Innenum­sätze zwischen dem Organträger und den Organgesellschaften und zwischen den Organgesellschaften, um eine Steuerkumulation zu vermeiden (vgl. BFH-Urteil in BFHE 56, 604, BStBl III 1952, 234). Ohne Organschaft führte das bis 31.12.1967 geltende nationale Umsatzsteuergesetz zu einer solchen Steuer­kumulation, da grundsätzlich jeder Umsatz in jeder Wirtschaftsstufe von der Steuer erfasst wurde, ohne dass ein Recht auf Vorsteuerabzug gegeben war (Allphasen-Bruttobesteuerung ohne Recht auf Vorsteuerabzug).

c) Kontext

Nach dem Kontext der Art. 2 Nr. 1 und Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG erbringen Mitglieder ihre Innenumsätze im Rahmen einer selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeit (siehe ‑‑s.‑‑ oben II.2.b), so dass die Steuerbarkeit zu bejahen ist. Zudem ist Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG in Verbindung mit ‑‑i.V.m.‑‑ deren Art. 4 Abs. 1 Unter­abs. 1 dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Ein­heiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie fi­nanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Mehrwert­steuergruppe eingegliedert sind (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 81).

d) Regelungsziele

Eine Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze dürften die mit Art. 4 Abs. 4 Unter­abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG verfolgten Ziele nicht erfordern. Diese Ziele sieht der EuGH darin, "die Eigenschaft des Steuerpflichtigen nicht systematisch an das Merkmal der 'rein rechtlichen Selbständigkeit' zu knüpfen, und zwar aus Gründen der Verwaltungsvereinfachung oder zur Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z.B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehre­ren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen" (EuGH-Urteil Finanzamt T, EU:C:2022:944, Rz 43).

aa) Verwaltungsvereinfachung

(1) Verfahrensrechtliche Vereinfachung

Bei der Verwaltung, die durch Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG vereinfacht werden soll, geht es aus der Sicht des Senats um die Verwaltung des sich nach der Richtlinie ergebenden Steueranspruchs. Verwal­tungsvereinfachung zielt daher in erster Linie auf das Besteuerungsverfahren ab. Dieses vereinfacht sich dadurch, dass aufgrund der Gruppenbildung nicht mehr mehrere Steuererklärungen abzugeben sind, da diese zu einer Steuerer­klärung zusammengefasst werden. Eine in diesem Sinne verfahrensrechtliche Verwaltungsvereinfachung hat keinen Einfluss auf den sich nach dem materiel­len Recht ergebenden Steueranspruch. Sie führt daher dazu, dass Innenum­sätze zwischen den nach Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG miteinander verbundenen Personen weiterhin dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegen. Sie sind dann, wie die Generalanwältin Medina in ihren Schlussanträgen in den Rechtssachen Finanzamt T (EU:C:2022:60) und Nord­deutsche Gesellschaft für Diakonie (EU:C:2022:11) ausführlich dargelegt hat (s. oben II.3.a), erklärungspflichtig und führen zu einer Steuerschuld, falls für die Leistung keine Steuerbefreiung besteht.

(2) Materiell-rechtliche Vereinfachung?

Verwaltungsvereinfachung kann sich aber auch auf das materielle Recht bezie­hen, indem Innenumsätze zwischen den Gruppenmitgliedern als nicht mehr dem Anwendungsbereich der Steuer unterliegend angesehen werden und auf dieser Grundlage die Erklärungspflicht entfällt. Dies kann dann als nachvoll­ziehbar erscheinen, wenn das den Innenumsatz empfangende Gruppenmit­glied zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und sich Steuerschuld und Vorsteuer­abzugsrecht im Ergebnis saldieren.

Demgegenüber führt eine allgemeine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen, die auch dann eingreift, wenn das den Innenumsatz empfangende Gruppen­mitglied nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist, zu den bereits beschriebe­nen Steuerverlusten (s. oben II.2.c) und im Ergebnis nicht zu einer Verwal­tungsvereinfachung, sondern zu einer Nichtbesteuerung.

Damit stellt sich die vom EuGH zu beantwortende Frage, ob eine Verwaltungs­vereinfachung zu Steuerverlusten führen darf. Derartigen Steuerverlusten kann durchaus erhebliches Gewicht zukommen, da die Organschaft im Hinblick auf die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen gerade für Steuerpflichtige, de­nen aufgrund einer Steuerfreiheit nach Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG kein Recht auf Vorsteuerabzug zusteht (Krankenhäuser, Pflegeeinrichtungen, Versi­cherungsgesellschaften oder Banken), als Gestaltungsmittel angesehen wird, um das Entstehen einer nichtabziehbaren Vorsteuer zu vermeiden (Grune/Mönckedieck, Umsatzsteuer-Rundschau 2012, 541; Heintzen, Deut­sches Steuerrecht 1999, 1799).

Dabei ist auch fraglich, ob für die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen da­nach zu unterscheiden ist, ob für den Empfänger des Innenumsatzes das Recht auf Vorsteuerabzug besteht. Eine derartige Differenzierung könnte dem Ziel der Verwaltungsvereinfachung widersprechen. Denn zur Verwaltungsver­einfachung müsste dann geprüft werden, ob aufgrund eines dem Empfänger zustehenden Rechts auf Vorsteuerabzug von einer Nichtsteuerbarkeit des In­nenumsatzes auszugehen ist. Es stellt sich jedenfalls aus der Sicht des Senats nicht als Vereinfachung dar, zur Bestimmung der Nichtsteuerbarkeit eines In­nenumsatzes über die vielfältigen und häufig nur schwierig zu beantwortenden Fragen zum Abzugsrecht nach Art. 17 der Richtlinie 77/388/EWG entscheiden zu müssen. Der Senat verweist hierzu, ohne einzelne Entscheidungen heraus­zugreifen, auf die umfangreiche Rechtsprechung des EuGH zu dieser Bestim­mung.

Schließlich kann eine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen aufgrund der blo­ßen Ermächtigung in Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG zu einer unterschiedlichen Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten führen, da nur einzelne Mitgliedstaaten diese Ermächtigung ausgeübt haben. Dies kann in einzelnen Branchen, wie z.B. dem Bank- oder Finanzbereich, zu steuerrechtlich verursachten Wettbewerbsverzerrungen führen.

bb) Verhinderung einer künstlichen Aufspaltung

Das Ziel der Verhinderung bestimmter Missbräuche, wie z.B. der Aufspaltung eines Unternehmens zwischen mehreren Steuerpflichtigen, um in den Genuss einer Sonderregelung zu gelangen, rechtfertigt keine Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen. Sieht man in der Aufspaltung eines Unternehmens, um z.B. die Sonderregelung für Kleinunternehmen nach Art. 24 der Richtlinie 77/388/EWG mehrfach in Anspruch zu nehmen, einen Missbrauch, wird damit einer Nichtbesteuerung von Umsätzen entgegengewirkt. Damit kommt es ge­rade zu einer Besteuerung von Umsätzen. Derartige Überlegungen können demgemäß eine Nichtbesteuerung von Innenumsätzen nicht begründen.

Im Gegenteil könnte der allgemeine Missbrauchsbegriff (vgl. z.B. EuGH-Urteile Halifax und andere ‑‑u.a.‑‑ vom 21.02.2006 ‑ C‑255/02, EU:C:2006:121, Rz 74 ff.; Cussens u.a. vom 22.11.2017 ‑ C‑251/16, EU:C:2017:881, Rz 53 und 70; siehe auch EuGH-Urteil T Danmark und Y Denmark vom 26.02.2019 ‑ C‑116/16 und C‑117/16, EU:C:2019:135, Rz 97) sogar dafür angeführt wer­den, dass eine Steuerbarkeit von Innenumsätzen jedenfalls dann vorliegt, wenn entgeltliche Leistungen an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Grup­penmitglieder ausgeführt werden sollen. Es geht dann um die Erlangung eines "Steuervorteils" in dem Sinne, dass die Entstehung einer nicht zum Vorsteuer­abzug berechtigenden Steuer vermieden wird. Ein derartiger "Steuervorteil" läuft Art. 17 Abs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG zuwider, da diese Regelung den Vorsteuerabzug an besteuerte Ausgangsumsätze knüpft, woran es bei der An­wendung von Art. 13 der Richtlinie 77/388/EWG jedoch gerade fehlt.

5. Entscheidungserheblichkeit

a) Steuerbarkeit von Innenumsätzen

aa) Richtlinienkonforme Auslegung des nationalen Rechts

Sind Innenumsätze steuerbar, ist das nationale Recht entgegen der Auffas­sung der Klägerin richtlinienkonform auslegbar. Da die Nichtsteuerbarkeit der Innenumsätze nach nationalem Recht aus dem bisherigen Verständnis des Be­griffs "nicht selbständig" folgte, der für beide Nummern des § 2 Abs. 2 UStG übereinstimmend ausgelegt wurde, wäre der Begriff in § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG normspezifisch und damit eigenständig gegenüber § 2 Abs. 2 Nr. 1 UStG im Sinne des Unionsrechts auszulegen. Die Unselbständigkeit i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG würde dann dazu führen, dass der Organträger alle Umsätze der Organgesellschaften zu erklären und zu versteuern hat, wobei sich dies ent­sprechend der Sichtweise der Generalanwältin Medina in den Rechtssachen Finanzamt T (EU:C:2022:60, Rz 36 f.) und Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (EU:C:2022:11, Rz 64 und 73) auch auf die Innenumsätze erstre­cken würde.

Dem stehen § 2 Abs. 2 Nr. 2 Sätze 2 und 3 UStG nicht entgegen. Zwar sind danach die Wirkungen der Organschaft auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt und sind diese Unterneh­mensteile als ein Unternehmen zu behandeln. Diese Regelungen dienen jedoch nur dazu, den Anwendungsbereich der Organschaft auf das Inland zu be­schränken (BTDrucks 10/4513, Seite 29). Sie führen nicht dazu, die Nichtsteu­erbarkeit von Innenumsätzen eigenständig zu begründen, was sich schon da­raus ergibt, dass von der Nichtsteuerbarkeit bereits vor der Schaffung dieser Regelungen ausgegangen wurde (s. oben II.4.b).

bb) Folgen für die Entscheidung im Streitfall

Sind Innenumsätze steuerbar, hätte die Revision des FA Erfolg. Zwar hätte die Klägerin aufgrund der durch das EuGH-Urteil Finanzamt T (EU:C:2022:944) gewonnenen Erkenntnisse keine Entnahmebesteuerung vorzunehmen.

Der Senat ist aber nach dem Grundsatz der sogenannten Vollrevision (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 12.05.2022 ‑ V R 19/20, zur amtlichen Veröffentlichung be­stimmt, BFH/NV 2023, 101, Rz 11) nach nationalem Recht verpflichtet, die Entscheidung der Vorinstanz materiell-rechtlich in vollem Umfang und damit ohne Einschränkung auf die von den Beteiligten vorgebrachten Streitpunkte zu überprüfen. Daher ist aufgrund der nunmehr entstandenen Zweifel auch zu prüfen, ob Innenumsätze steuerbar oder nichtsteuerbar sind.

Die Frage ist im Streitfall entscheidungserheblich. Denn die U‑GmbH ist im Streitfall einer selbständigen Wirtschaftstätigkeit nachgegangen (vgl. auch EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 79), so dass die Voraussetzungen für eine Steuerbarkeit vorliegen. Ist diese Steu­erbarkeit auch unter Berücksichtigung von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richt­linie 77/388/EWG zu bejahen, was durch die beiden Vorlagefragen geklärt werden soll, hätte die Klägerin, die von der U‑GmbH an sie gegen Entgelt er­brachten Leistungen als einzige Steuerpflichtige der Gruppe zu versteuern, ohne dass ihr ein Recht auf Vorsteuerabzug aus diesem Leistungsbezug zu­steht. Die Klage wäre daher abzuweisen. Im Hinblick auf das sogenannte Ver­böserungsverbot hat sie dabei allerdings die Leistungen der U‑GmbH nur im Umfang des streitigen Steuerbetrags zu versteuern, wie er sich aus der vom FA ursprünglich angenommenen Entnahmebesteuerung ergibt. Eine weiterge­hende Besteuerung zu Lasten der Klägerin kommt im gerichtlichen Verfahren danach nicht in Betracht.

b) Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen

Sind Innenumsätze demgegenüber entsprechend der bisherigen Beurteilung im nationalen Recht nicht steuerbar, hätte das FG der Klage zu Recht stattge­geben. Die Revision des FA wäre als unbegründet zurückzuweisen.

6. Zum Rechtsgrund der Vorlage

Die Vorlage beruht auf Art. 267 des Vertrages über die Arbeitsweise der Euro­päischen Union.

7. Zur Verfahrensaussetzung

Die Aussetzung des Verfahrens beruht auf § 121 Satz 1 i.V.m. § 74 der Fi­nanzgerichtsordnung.

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