EuGH: Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat, Geltendmachung des vor der Sitzverlegung angefallenen steuerlichen Verlusts

Vorlage zur Vorabentscheidung – Art. 49 AEUV – Niederlassungsfreiheit – Steuerrecht – Körperschaftsteuer – Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft in einen anderen Mitgliedstaat als den Gründungsmitgliedstaat der Gesellschaft – Verlegung der Steueransässigkeit in diesen anderen Mitgliedstaat – Nationale Regelung, der zufolge es nicht zulässig ist, den im Mitgliedstaat, in dem die Gesellschaft gegründet wurde, vor der Sitzverlegung angefallenen steuerlichen Verlust geltend zu machen

EuGH-Urteil vom 27. Februar 2020, Rechtssache C-405/18

  1. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass sich eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ohne dass die Sitzverlegung ihre Eigenschaft als nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft berührt, auf diesen Artikel berufen kann, um dagegen vorzugehen, dass ihr in dem anderen Mitgliedstaat die Übertragung der vor der Sitzverlegung angefallenen Verluste verwehrt wird.
  2. Art. 49 AEUV ist dahin auszulegen, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, der zufolge es einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz und damit ihre Steueransässigkeit in diesen Mitgliedstaat verlegt hat, verwehrt ist, einen steuerlichen Verlust geltend zu machen, der vor der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren satzungsmäßigen Sitz beibehält, angefallen ist.

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der Art. 49, 52 und 54 AEUV.

2        Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der AURES Holdings a.s. und der Odvolací finanční ředitelství (Berufungsdirektion für Finanzen, Tschechische Republik, im Folgenden: Berufungsdirektion), weil die Berufungsdirektion es der AURES Holdings a.s. verwehrt hat, einen steuerlichen Verlust abzuziehen, der ihr in einem anderen Mitgliedstaat als der Tschechischen Republik entstanden ist.

Rechtlicher Rahmen

3        § 34 („Von der Steuerbemessungsgrundlage abzugsfähige Posten“) des Zákon č. 586/1992 Sb., o daních z příjmů (Gesetz Nr. 586/1992 über die Einkommensteuer) in seiner auf den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens anwendbaren Fassung (im Folgenden: EKStG) sieht in Abs. 1 vor:

„Der steuerliche Verlust, der im vorangegangenen Besteuerungszeitraum entstanden und festgesetzt worden ist, oder ein Teil davon kann von der Steuerbemessungsgrundlage abgezogen werden, dies maximal in den fünf Besteuerungszeiträumen, die unmittelbar auf den Zeitraum folgen, für den der steuerliche Verlust festgesetzt worden ist. …“

4        § 38n („Steuerlicher Verlust“) Abs. 1 und 2 dieses Gesetzes lautet:

„(1)      Liegen die im Sinne von § 23 angepassten Ausgaben (Aufwendungen) über den gemäß diesem Artikel angepassten Einkünften, so entspricht die festgestellte Differenz einem steuerlichen Verlust.

(2)      Bei einem steuerlichen Verlust wird analog wie bei einer Steuerpflicht verfahren. Der bei einer ohne Abwicklung aufgelösten steuerpflichtigen Gesellschaft entstandene und festgesetzte steuerliche Verlust wird jedoch vorbehaltlich der in § 23a Abs. 5 Buchst. b und § 23c Abs. 8 Buchst. b genannten Ausnahmen nicht auf ihren gesetzlichen Nachfolger übertragen. Der steuerliche Verlust wird vom Finanzamt festgesetzt. Die Verringerung eines steuerlichen Verlusts richtet sich entsprechend nach demselben Verfahren wie der Steueraufschlag. Die Erhöhung eines steuerlichen Verlusts erfolgt entsprechend im gleichen Verfahren wie der Steuervorteil. Der steuerliche Verlust wird auf die nächsthöhere Einheit aufgerundet.“

Ausgangsrechtsstreit und Vorlagefragen

5        AURES Holdings, vormals AAA Auto International a.s., ist das Nachfolgeunternehmen der AAA Auto Group NV (im Folgenden zusammen: Aures), einer nach niederländischem Recht gegründeten Gesellschaft, deren satzungsmäßiger Sitz und tatsächlicher Verwaltungssitz sich in den Niederlanden befanden, was zu einer niederländischen Steueransässigkeit führte.

6        Für das Steuerjahr 2007 erlitt Aures in den Niederlanden einen Verlust in Höhe von 2 792 187 Euro, der vom niederländischen Finanzamt nach Maßgabe des niederländischen Steuerrechts festgesetzt wurde.

7        Am 1. Januar 2008 gründete Aures in der Tschechischen Republik eine Zweigniederlassung, die nach tschechischem Recht eine Betriebsstätte dieser Gesellschaft ohne eigene Rechtspersönlichkeit darstellt und deren Tätigkeit in diesem Mitgliedstaat der Steuer unterliegt.

8        Am 1. Januar 2009 verlegte Aures ihren tatsächlichen Verwaltungssitz von den Niederlanden in die Tschechische Republik, konkret an die Adresse der Zweigniederlassung. Aufgrund der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes verlegte Aures auch ihre Steueransässigkeit mit Wirkung von diesem Tag aus den Niederlanden in die Tschechische Republik. Nunmehr übt sie ihre gesamte Tätigkeit über diese Zweigniederlassung aus.

9        Ihren satzungsmäßigen Sitz und ihre Eintragung in das Handelsregister behielt Aures indes in Amsterdam (Niederlande). Für ihre internen Angelegenheiten gilt daher nach wie vor niederländisches Recht.

10      Angesichts der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes und damit der Steueransässigkeit beantragte Aures bei den tschechischen Steuerbehörden, von der Bemessungsgrundlage der von ihr für das Steuerjahr 2012 geschuldeten Körperschaftsteuer den ihr im Steuerjahr 2007 in den Niederlanden entstandenen Verlust abziehen zu dürfen.

11      Am Ende eines am 19. März 2014 eingeleiteten Klärungs- und Regulierungsverfahrens vertrat das tschechische Finanzamt die Auffassung, dass der steuerliche Verlust nicht als gemäß § 38n EKStG von der Steuerbemessungsgrundlage abzugsfähiger Posten geltend gemacht werden könne. Als tschechische Steueransässige sei Aures mit ihren weltweiten Einkünften nach Maßgabe des tschechischen Steuerrechts steuerpflichtig. Gleichwohl dürfe sie von der Steuerbemessungsgrundlage nur einen Verlust abziehen, der aus einer wirtschaftlichen Tätigkeit in der Tschechischen Republik stamme und der nach den Bestimmungen des EKStG festgesetzt worden sei, da dieses Gesetz keine Bestimmungen über den Abzug eines steuerlichen Verlusts bei einem Wechsel der Steueransässigkeit enthalte und nicht die Übertragung eines solchen Verlusts aus einem anderen Mitgliedstaat als der Tschechischen Republik erlaube.

12      Folglich setzte das tschechische Finanzamt mit Steuerbescheid vom 11. September 2014 die von Aures für das Steuerjahr 2012 geschuldete Körperschaftsteuer fest, ohne den im Steuerjahr 2007 angefallenen Verlust von der Körperschaftsteuer-Bemessungsgrundlage abgezogen zu haben.

13      Aures legte gegen diesen Steuerbescheid einen Rechtsbehelf ein, der von der Berufungsdirektion zurückgewiesen wurde, und erhob sodann Klage beim Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag, Tschechische Republik). Auch die Klage wurde abgewiesen.

14      Das tschechische Finanzamt, die Berufungsdirektion und das Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) stellten zum einen fest, dass weder das EKStG noch das Abkommen zwischen der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Verhinderung der Steuerhinterziehung in Bezug auf die Einkommen- und Kapitalsteuern vom 22. November 1974 in seiner am 31. Mai 2013 geltenden Fassung die grenzüberschreitende Übertragung eines steuerlichen Verlusts anlässlich der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft zuließen, es sei denn, dass spezielle Fallkonstellationen vorlägen, die im vorliegenden Fall nicht einschlägig seien. Nach den allgemeinen Bestimmungen der §§ 34 und 38n EKStG sei es nicht zulässig, einen Verlust abzuziehen, der nicht nach Maßgabe des tschechischen Rechts festgesetzt worden sei.

15      Zum anderen waren diese Behörden und dieses Gericht der Auffassung, dass die Unmöglichkeit des fraglichen Verlustabzugs – entgegen dem Vorbringen von Aures – nicht gegen die Niederlassungsfreiheit verstoße. Die von Aures angeführten Urteile vom 13. Dezember 2005, Marks & Spencer (C‑446/03, EU:C:2005:763), vom 29. November 2011, National Grid Indus (C‑371/10, EU:C:2011:785), und vom 21. Februar 2013, A (C‑123/11, EU:C:2013:84), beträfen Situationen, die sich von der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden objektiv unterschieden. Unter Bezugnahme auf das Urteil vom 15. Mai 2008, Lidl Belgium (C‑414/06, EU:C:2008:278), vertrat die Berufungsdirektion die Auffassung, dass im Ausgangsverfahren die tatsächliche Gefahr einer doppelten Berücksichtigung des im Steuerjahr 2007 angefallenen steuerlichen Verlusts bestehe.

16      Aures legte gegen die Entscheidung des Městský soud v Praze (Stadtgericht Prag) Kassationsbeschwerde beim Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) ein.

17      Vor diesem Gericht machte Aures geltend, dass die grenzüberschreitende Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes unter die Ausübung der Niederlassungsfreiheit falle und dass es eine ungerechtfertigte Beschränkung der Niederlassungsfreiheit darstelle, dass sie in der Tschechischen Republik den im Steuerjahr 2007 angefallenen Verlust, den sie in den Niederlanden nicht mehr geltend machen könne, nicht abziehen könne.

18      Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass es nach dem EKStG nicht zulässig sei, dass eine Gesellschaft, die, wie Aures, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz von einem anderen Mitgliedstaat in die Tschechische Republik verlegt habe, einen in dem anderen Mitgliedstaat angefallenen steuerlichen Verlust geltend mache. Eine Übertragung steuerlicher Verluste sei nur im Rahmen der von diesem Gesetz speziell erfassten grenzüberschreitenden Umsätze möglich, die im Ausgangsverfahren nicht einschlägig seien.

19      Zur Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits hält es das vorlegende Gericht daher für erforderlich, auf das Vorbringen zur Niederlassungsfreiheit einzugehen.

20      Dafür sei zum einen zu klären, ob die Niederlassungsfreiheit auf den Fall der grenzüberschreitenden Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes einer Gesellschaft anwendbar sei.

21      Zum anderen sei zu prüfen, ob eine nationale Regelung, der zufolge es einer Gesellschaft verwehrt werde, im Aufnahmemitgliedstaat einen Verlust geltend zu machen, der vor der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in den Aufnahmemitgliedstaat im Herkunftsmitgliedstaat angefallen sei, mit der Niederlassungsfreiheit vereinbar sei. Das vorlegende Gericht weist darauf hin, dass der Bereich der direkten Steuern grundsätzlich nicht harmonisiert sei und dass die Mitgliedstaaten in diesem Bereich souverän seien, fragt sich aber, ob die Niederlassungsfreiheit bedeute, dass die Verlegung der Steueransässigkeit von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat stets steuerlich neutral sein müsse.

22      Vor diesem Hintergrund hat der Nejvyšší správní soud (Oberstes Verwaltungsgericht, Tschechische Republik) beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Lässt sich unter den Begriff der Niederlassungsfreiheit im Sinne von Art. 49 AEUV ohne Weiteres auch die bloße Verlegung des Ortes der Geschäftsleitung von einem Mitgliedstaat in einen anderen Mitgliedstaat subsumieren?
  2. Falls die erste Frage bejaht wird, steht es im Widerspruch zu den Art. 49, 52 und 54 AEUV, wenn einem Steuerpflichtigen aus einem anderen Mitgliedstaat bei der Verlegung des Ortes der Ausübung seiner Geschäftstätigkeit bzw. bei der Verlegung des Ortes der Geschäftsleitung in die Tschechische Republik nach den nationalen Rechtsvorschriften das Recht auf Geltendmachung des steuerlichen Verlusts, der in diesem anderen Mitgliedstaat angefallen ist, verwehrt wird?

Zu den Vorlagefragen

Zur ersten Frage

23      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass sich eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ohne dass die Sitzverlegung ihre Eigenschaft als nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft berührt, auf diesen Artikel berufen kann, um dagegen vorzugehen, dass ihr in dem anderen Mitgliedstaat die Übertragung der vor der Sitzverlegung angefallenen Verluste verwehrt wird.

24      Nach Art. 49 AEUV in Verbindung mit Art. 54 AEUV genießen diejenigen Gesellschaften Niederlassungsfreiheit, die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründet wurden und ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Europäischen Union haben.

25      Der Gerichtshof hat insbesondere bereits entschieden, dass sich eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ohne dass die Verlegung des Sitzes ihre Eigenschaft als Gesellschaft nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats berührt, auf Art. 49 AEUV berufen kann, um u. a. die mit der Verlegung des Sitzes im Herkunftsmitgliedstaat verknüpften steuerlichen Folgen in Frage zu stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 33).

26      Ebenso kann sich eine solche Gesellschaft unter solchen Umständen auf Art. 49 AEUV berufen, um die steuerliche Behandlung in dem Mitgliedstaat, in den sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt, in Frage zu stellen. Die grenzüberschreitende Verlegung des Verwaltungssitzes fällt daher in den Anwendungsbereich dieses Artikels.

27      Jede andere Auslegung würde nämlich gegen den Wortlaut der Bestimmungen des Unionsrechts über die Niederlassungsfreiheit verstoßen, die insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen sollen (vgl. in diesem Sinne Urteile vom 11. März 2004, de Lasteyrie du Saillant, C‑9/02, EU:C:2004:138, Rn. 42, und vom 12. Juni 2018, Bevola und Jens W. Trock, C‑650/16, EU:C:2018:424, Rn. 16).

28      Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass sich eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt, ohne dass die Sitzverlegung ihre Eigenschaft als nach dem Recht des ersten Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft berührt, auf diesen Artikel berufen kann, um dagegen vorzugehen, dass ihr in dem anderen Mitgliedstaat die Übertragung der vor der Sitzverlegung angefallenen Verluste verwehrt wird.

Zur zweiten Frage

29      Mit seiner zweiten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats entgegensteht, der zufolge es einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz und damit ihre Steueransässigkeit in diesen Mitgliedstaat verlegt hat, verwehrt ist, einen steuerlichen Verlust geltend zu machen, der vor der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren satzungsmäßigen Sitz beibehält, angefallen ist.

30      Mit der Niederlassungsfreiheit, die Art. 49 AEUV den Unionsbürgern zuerkennt, ist gemäß Art. 54 AEUV für die nach den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaften, die ihren satzungsmäßigen Sitz, ihre Hauptverwaltung oder ihre Hauptniederlassung innerhalb der Union haben, das Recht verbunden, ihre Tätigkeit in anderen Mitgliedstaaten durch eine Tochtergesellschaft, Zweigniederlassung oder Agentur auszuüben.

31      Wie in Rn. 27 des vorliegenden Urteils ausgeführt, sollen die Bestimmungen des Unionsrechts über die Niederlassungsfreiheit insbesondere die Inländerbehandlung im Aufnahmemitgliedstaat sicherstellen.

32      Dagegen garantiert der Vertrag einer unter Art. 54 AEUV fallenden Gesellschaft nicht, dass die Verlegung ihres tatsächlichen Verwaltungssitzes von einem Mitgliedstaat in einen anderen steuerneutral ist. Aufgrund der unterschiedlichen Regelungen der Mitgliedstaaten in diesem Bereich kann eine solche Verlegung für eine Gesellschaft je nach dem Einzelfall steuerlich mehr oder weniger vorteilhaft oder nachteilig sein. Die Niederlassungsfreiheit kann nämlich nicht dahin verstanden werden, dass ein Mitgliedstaat verpflichtet ist, seine Steuervorschriften auf diejenigen eines anderen Mitgliedstaats abzustimmen, um in allen Situationen eine Besteuerung zu gewährleisten, die jede Ungleichheit, die sich aus den nationalen Steuerregelungen ergibt, beseitigt (Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 62 und die dort angeführte Rechtsprechung).

33      Im vorliegenden Fall ist festzustellen, dass die einer gebietsansässigen Gesellschaft nach dem Recht eines Mitgliedstaats eröffnete Möglichkeit, die in einem bestimmten Besteuerungszeitraum in diesem Mitgliedstaat angefallenen Verluste geltend zu machen, um sie von dem steuerbaren Gewinn abzuziehen, der von der Gesellschaft in späteren Besteuerungszeiträumen erzielt wurde, einen Steuervorteil darstellt.

34      Die Tatsache, dass von diesem Steuervorteil die Verluste ausgenommen werden, die eine in einem Mitgliedstaat ansässige, aber nach dem Recht eines anderen Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft in einem Besteuerungszeitraum, in dem sie in dem anderen Mitgliedstaat ansässig war, dort erlitten hat, während dieser Steuervorteil einer Gesellschaft, die im erstgenannten Mitgliedstaat ansässig ist und die dort während desselben Zeitraums Verluste erlitten hat, gewährt wird, stellt, in steuerlicher Hinsicht, eine Ungleichbehandlung dar.

35      Aufgrund dieser Ungleichbehandlung könnte eine nach dem Recht eines Mitgliedstaats gegründete Gesellschaft davon abgehalten werden, ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat zu verlegen, um dort ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten auszuüben.

36      Eine solche Ungleichbehandlung, die sich aus einer mitgliedstaatlichen Steuerregelung zulasten von Gesellschaften ergibt, die ihre Niederlassungsfreiheit ausüben, ist nur statthaft, wenn sie Situationen betrifft, die nicht objektiv miteinander vergleichbar sind, oder wenn sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (Urteile vom 17. Juli 2014, Nordea Bank Danmark, C‑48/13, EU:C:2014:2087, Rn. 23, und vom 17. Dezember 2015, Timac Agro Deutschland, C‑388/14, EU:C:2015:829, Rn. 26).

37      Zum ersten in der vorstehenden Randnummer des vorliegenden Urteils genannten Fall ist darauf hinzuweisen, dass nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs die Vergleichbarkeit eines grenzüberschreitenden Sachverhalts mit einem innerstaatlichen Sachverhalt unter Berücksichtigung des mit den fraglichen nationalen Bestimmungen verfolgten Ziels zu prüfen ist (Urteil vom 12. Juni 2018, Bevola und Jens W. Trock, C‑650/16, EU:C:2018:424, Rn. 32 und die dort angeführte Rechtsprechung).

38      Im vorliegenden Fall geht aus der dem Gerichtshof vorliegenden Akte – vorbehaltlich einer Überprüfung durch das vorlegende Gericht – hervor, dass die tschechischen Rechtsvorschriften dadurch, dass sie vorsehen, dass eine Gesellschaft in dem Mitgliedstaat, in dem sie nunmehr gebietsansässig ist, nicht die Verluste geltend machen darf, die sie in einem Besteuerungszeitraum erlitten hat, in dem sie in einem anderen Mitgliedstaat steueransässig war, im Wesentlichen darauf abzielt, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren und die Gefahr eines doppelten Verlustabzugs zu vermeiden.

39      Im Hinblick auf eine Maßnahme, mit der diese Ziele verfolgt werden, ist davon auszugehen, dass sich eine in einem Mitgliedstaat ansässige Gesellschaft, die dort Verluste erlitten hat, und eine Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz und damit ihre Steueransässigkeit in diesen Mitgliedstaat verlegt hat, nachdem sie in einem Besteuerungszeitraum Verluste erlitten hat, in dem sie in einem anderen Mitgliedstaat steueransässig war, ohne im erstgenannten Mitgliedstaat in irgendeiner Form präsent gewesen zu sein, grundsätzlich nicht in einer vergleichbaren Situation befinden.

40      Die Situation einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt, unterliegt nämlich nacheinander der Steuerhoheit zweier Mitgliedstaaten, nämlich zum einen des Herkunftsmitgliedstaats für den Besteuerungszeitraum, in dem die Verluste angefallen sind, und zum anderen des Aufnahmemitgliedstaats für den Besteuerungszeitraum, in dem die Gesellschaft den Verlustabzug beantragt.

41      Daraus folgt, dass der Aufnahmemitgliedstaat für den Besteuerungszeitraum, in dem die in Rede stehenden Verluste angefallen sind, keine Steuerhoheit besitzt, und folglich die Situation einer Gesellschaft, die ihre Steueransässigkeit in diesen Mitgliedstaat verlegt hat und dort anschließend Verluste geltend macht, die zuvor in einem anderen Mitgliedstaat angefallen sind, nicht mit der Situation einer Gesellschaft vergleichbar ist, deren Ergebnisse für den Besteuerungszeitraum, in dem ihre Verluste angefallen sind, der Steuerhoheit des erstgenannten Mitgliedstaats unterlagen (vgl. entsprechend Urteil vom 17. Dezember 2015, Timac Agro Deutschland, C‑388/14, EU:C:2015:829, Rn. 65).

42      Überdies ist der Umstand, dass eine Gesellschaft, die ihre Steueransässigkeit von einem Mitgliedstaat in einen anderen verlegt hat, nacheinander der Steuerhoheit zweier Mitgliedstaaten unterliegt, geeignet, ein erhöhtes Risiko einer doppelten Berücksichtigung der Verluste zu begründen, da eine solche Gesellschaft dadurch dazu verleitet werden könnte, dieselben Verluste bei den Behörden dieser beiden Mitgliedstaaten geltend zu machen.

43      In ihren beim Gerichtshof eingereichten Erklärungen haben die Regierung des Vereinigten Königreichs und die Europäische Kommission gleichwohl im Wesentlichen vorgetragen, dass die Vergleichbarkeit der Situationen nach der auf das Urteil vom 12. Juni 2018, Bevola und Jens W. Trock (C‑650/16, EU:C:2018:424, Rn. 38), zurückgehenden Rechtsprechung davon abhänge, ob der im Ausgangsverfahren in Rede stehende Verlust endgültig sei.

44      Der Gerichtshof hat insoweit entschieden, dass sich in Bezug auf Verluste einer gebietsfremden Betriebsstätte, die jede Tätigkeit eingestellt hat und deren Verluste nicht von ihrem steuerpflichtigen Gewinn in dem Mitgliedstaat, in dem sie tätig war, abgezogen werden konnten und nicht mehr abgezogen werden können, die Situation einer gebietsansässigen Gesellschaft, die eine solche Betriebsstätte hat, in Anbetracht des Ziels, den doppelten Abzug der Verluste zu vermeiden, nicht von der Situation einer gebietsansässigen Gesellschaft mit einer gebietsansässigen Betriebsstätte unterscheidet, obwohl die Situationen dieser beiden Gesellschaften grundsätzlich nicht vergleichbar sind (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 18. Juni 2018, Bevola und Jens W. Trock, C‑650/16, EU:C:2018:424, Rn. 37 und 38).

45      Diesem Ansatz kann jedoch nicht gefolgt werden, wenn eine Gesellschaft, nachdem sie ihren tatsächlichen Verwaltungssitz und damit ihre Steueransässigkeit vom Mitgliedstaat ihres satzungsmäßigen Sitzes in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, in diesem Mitgliedstaat die Verluste abziehen möchte, die ihr im erstgenannten Mitgliedstaat in einem Besteuerungszeitraum entstanden sind, in dem dieser seine Steuerhoheit gegenüber dieser Gesellschaft ausschließlich ausübte.

46      Erstens ist nämlich, wie die Generalanwältin in den Nrn. 56 und 57 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, die in Rn. 44 des vorliegenden Urteils angeführte Rechtsprechung unter anderen Umständen als denen des Ausgangsverfahrens entwickelt worden.

47      Diese Rechtsprechung betrifft die etwaige Berücksichtigung von Verlusten durch eine gebietsansässige Gesellschaft, die ihrer gebietsfremden Betriebsstätte entstanden sind.

48      Folglich ist von dieser Rechtsprechung eine Situation erfasst, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sich die Gesellschaft, die die Verluste ihrer gebietsfremden Betriebsstätte von ihrer Steuerbemessungsgrundlage abziehen möchte, und diese Betriebsstätte während desselben Besteuerungszeitraums in zwei verschiedenen Mitgliedstaaten befinden.

49      Aus der Darstellung der zeitlichen Abfolge der im Ausgangsverfahren maßgeblichen Vorgänge durch das vorlegende Gericht geht jedoch hervor, dass Aures für das Jahr 2007 in den Niederlanden Verluste in einem Besteuerungszeitraum erlitten hat, in dem sich sowohl ihr satzungsmäßiger Sitz als auch ihr tatsächlicher Verwaltungssitz in diesem Mitgliedstaat befanden und sie noch keine Betriebsstätte in der Tschechischen Republik gegründet hatte.

50      Zweitens wäre, wie die Generalanwältin in den Nrn. 72 und 73 ihrer Schlussanträge ausgeführt hat, eine Übertragung der im Urteil vom 12. Juni 2018, Bevola und Jens W. Trock (C‑650/16, EU:C:2018:424, Rn. 38), entwickelten Lösung auf den in Rn. 45 des vorliegenden Urteils genannten Fall auch nicht mit der Rechtsprechung des Gerichtshofs zur Wegzugsbesteuerung vereinbar.

51      Insoweit hat der Gerichtshof nämlich im Wesentlichen entschieden, dass Art. 49 AEUV es dem Herkunftsmitgliedstaat einer nach dem Recht dieses Mitgliedstaats gegründeten Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in einen anderen Mitgliedstaat verlegt hat, nicht verwehrt, die nicht realisierten Wertzuwächse beim Vermögen dieser Gesellschaft zu besteuern (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. November 2011, National Grid Indus, C‑371/10, EU:C:2011:785, Rn. 59 und 64).

52      Ebenso kann der Mitgliedstaat, in den eine Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz verlegt, auch nicht dazu verpflichtet werden, die vor der Sitzverlegung angefallenen Verluste zu berücksichtigen, die sich auf Besteuerungszeiträume beziehen, für die dieser Mitgliedstaat über keine Steuerhoheit gegenüber dieser Gesellschaft verfügte.

53      Folglich befinden sich gebietsansässige Gesellschaften, die in diesem Mitgliedstaat Verluste erlitten haben, auf der einen Seite und Gesellschaften, die ihre Steueransässigkeit in diesen Mitgliedstaat verlegt haben und die in einem Besteuerungszeitraum, in dem sich ihre Steueransässigkeit in einem anderen Mitgliedstaat befand, in dem anderen Mitgliedstaat Verluste erlitten hatten, auf der anderen Seite im Hinblick auf die Ziele, die Aufteilung der Besteuerungsbefugnis zwischen den Mitgliedstaaten zu wahren und einen doppelten Verlustabzug zu vermeiden, nicht in einer vergleichbaren Situation.

54      Nach alledem ist auf die zweite Frage zu antworten, dass Art. 49 AEUV dahin auszulegen ist, dass er einer Regelung eines Mitgliedstaats nicht entgegensteht, der zufolge es einer Gesellschaft, die ihren tatsächlichen Verwaltungssitz und damit ihre Steueransässigkeit in diesen Mitgliedstaat verlegt hat, verwehrt ist, einen steuerlichen Verlust geltend zu machen, der vor der Verlegung des tatsächlichen Verwaltungssitzes in einem anderen Mitgliedstaat, in dem sie ihren satzungsmäßigen Sitz beibehält, angefallen ist.

 

Quelle: curia.europa.eu
An dieser Fassung sind noch Änderungen möglich; verbindlich sind nur die in der "Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts" und im "Amtsblatt der Europäischen Union" veröffentlichten Fassungen.
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