BFH: Per E-Mail gestellter Kindergeldantrag formwirksam
- Entgegen V 5.2 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz 2023 (DA‑KG 2023) enthält § 67 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) kein Unterschriftserfordernis.
- An die Form eines Kindergeldantrags sind keine hohen Anforderungen zu stellen, da das Kindergeld der Wahrung des Grundsatzes der Steuerfreiheit des Existenzminimums und der Förderung der Familie dient.
AO § 87a Abs. 3 Satz 1 und 2, § 218 Abs. 1 Satz 2
EStG 2017 § 66 Abs. 3
EStG 2019 § 67 Satz 1, § 70 Abs. 1 Satz 2
DA-KG 2023 V 5.2 Abs. 1 Satz 1 und 2
BFH-Urteil vom 12.10.2023, III R 38/21 (veröffentlicht am 21.12.2023)
Vorinstanz: FG Rheinland-Pfalz vom 6.7.2021, 5 K 1714/20 = SIS 22 01 73
I. Die Beteiligten streiten darüber, ob das Finanzgericht (FG) die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) zu Recht zur Zahlung von Kindergeld an die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) für deren Kinder A, geboren 20XX, und B, geboren 20XX, für die Monate Mai 2018 bis einschließlich April 2019 verpflichtet hat. Dies hängt entscheidend davon ab, ob ein Kindergeldantrag am 16.07.2019 auch mit einer E‑Mail formwirksam gestellt werden konnte, denn vor dem 18.07.2019 war der Anspruch auf Kindergeld und nach dem 18.07.2019 der Anspruch auf Auszahlung des Kindergelds auf die letzten sechs Kalendermonate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, begrenzt (§ 66 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑ i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften vom 23.06.2017, BGBl I 2017, 1682 ‑‑EStG a.F.‑‑ für Anträge, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingegangen sind, und § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG i.d.F. des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019, BGBl I 2019, 1066 ‑‑EStG n.F.‑‑, für Anträge, die nach dem 18.07.2019 eingegangen sind).
Am 16.07.2019 schrieb die Klägerin an die Familienkasse unter dem Betreff "Kindergeld ... ‑ kein Zahlungseingang seit Mai 2018" und unter Nennung der bis April 2018 zutreffenden Kindergeldnummer ... eine E‑Mail, in der sie beanstandete, seit der letzten Zahlung im April 2018 in Höhe von 388 € und somit ab Mai 2018 keine Kindergeldzahlung mehr erhalten zu haben. In der E‑Mail waren unter anderem der Name, die Adresse und die Telefonnummer der Klägerin angegeben.
Hierauf teilte ihr die Familienkasse mit, die Kinder A und B lebten nicht mehr im Haushalt des bisherigen Kindergeldberechtigten; die Kindergeldfestsetzung sei ihm gegenüber aufgehoben worden. Da die Kinder im Haushalt der Klägerin lebten, sei von ihr ein Antrag zu stellen. Über ihren Anspruch auf Kindergeld könne noch nicht (endgültig) entschieden werden, weil unter anderem noch die Vorlage eines Antrags sowie der jeweiligen Anlage Kind erforderlich seien. Sofern bis zum 29.08.2019 keine Antwort erfolge, werde der Antrag auf Kindergeld ab Mai 2018 abgelehnt.
Die Klägerin übersandte mit Schreiben vom 22.08.2019 eine Vollmacht, aber keine weiteren Unterlagen.
Mit Bescheid vom 10.09.2019 lehnte die Familienkasse unter Nennung der Namen und Geburtsdaten der Kinder den "formlose(n) Antrag auf Kindergeld vom 16.07.2019" ab dem Monat Mai 2018 ab.
Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein, übermittelte mit E‑Mail vom 14.11.2019 jeweils im "portable document format" (PDF) (unter anderem) das von ihr ausgefüllte und unterschriebene Antragsformular; weitere Unterlagen reichte sie mit Schreiben vom 12.12.2019 nach.
Mit Kindergeldbescheid vom 17.12.2019 änderte die Familienkasse den Bescheid vom 10.09.2019 nach § 172 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a der Abgabenordnung (AO) und setzte für beide Kinder ab Mai 2018 Kindergeld fest. Ergänzend wies sie darauf hin, dass es nur für die Monate Mai 2019 bis Dezember 2019 ausgezahlt werde. Gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. führe der am 14.11.2019 formwirksam eingegangene Antrag zu einer Nachzahlung nur für die letzten sechs Kalendermonate vor Beginn des Monats November 2019, also für die Monate ab Mai 2019.
Hiergegen legte die Klägerin am 20.01.2020 "Einspruch" ein.
Diesen behandelte die Familienkasse als Antrag auf Erlass eines Abrechnungsbescheids (§ 218 Abs. 2 Satz 1 AO) und entschied mit Bescheid vom 31.03.2020, dass die Klägerin für die Monate Mai 2018 bis einschließlich April 2019 gemäß § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. keinen Auszahlungsanspruch habe.
Die Klägerin legte erfolglos Einspruch ein und erhob dann Klage.
Das FG hob den Abrechnungsbescheid vom 31.03.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.06.2020 auf und verpflichtete die Familienkasse, der Klägerin das für den Zeitraum von Mai 2018 bis einschließlich April 2019 festgesetzte Kindergeld auszuzahlen. Die Klägerin habe bereits mit E‑Mail vom 16.07.2019 und damit vor Inkrafttreten des § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. formwirksam einen Antrag auf Kindergeld für die beiden Kinder ab Mai 2018 gestellt. Dies habe die Familienkasse auch so verstanden.
Der Leitsatz und eine Kurzwiedergabe sind in Familie und Recht 2022, 339 abgedruckt, das vollständige Urteil findet sich in juris.
Gegen dieses Urteil wendet sich die Familienkasse mit der Revision. Das FG habe zu Unrecht entschieden, dass ein schriftlich zu stellender Kindergeldantrag (§ 67 Satz 1 EStG) keine Unterschrift erfordere und auch mit einer einfachen, nicht qualifiziert signierten E‑Mail gestellt werden könne. Gemäß § 87a Abs. 3 Satz 1 und 2 AO könne eine durch Gesetz für Anträge an die Finanzbehörden angeordnete Schriftform durch die elektronische Form ersetzt werden; dieser genüge jedoch nur ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen sei. Das treffe auf die E‑Mail vom 16.07.2019 nicht zu. Da der Antrag somit wirksam erst am 14.11.2019 ‑‑also nach dem 18.07.2019‑‑ gestellt worden sei, sei § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. anwendbar und eine Auszahlung erst ab Mai 2019 möglich. Selbst wenn man jedoch der Auffassung des FG folgen und annehmen wollte, dass der Kindergeldantrag bereits mit der E‑Mail vom 16.07.2019 gestellt worden sei, hätte das FG berücksichtigen müssen, dass eine Kindergeldfestsetzung dann gemäß § 66 Abs. 3 EStG a.F. erst ab Januar 2019 in Betracht gekommen wäre.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Rheinland-Pfalz vom 06.07.2021 ‑ 5 K 1714/20 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Ihrer Auffassung nach ist die Vorentscheidung richtig.
II. Die Revision der Familienkasse ist nur zum geringen Teil begründet. Der Senat entscheidet nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in der Sache selbst und ändert den angegriffenen Abrechnungsbescheid der Familienkasse vom 31.03.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.06.2020 ab.
Das FG hat den Abrechnungsbescheid vom 31.03.2020 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 29.06.2020 zu Unrecht aufgehoben, statt ihn zu korrigieren (§ 100 Abs. 2 Satz 1 FGO, vgl. Senatsurteil vom 02.06.2022 ‑ III R 9/21, BFHE 277, 294, BStBl II 2022, 840, Rz 17). Außerdem hat es die Familienkasse zu Unrecht ohne Bezugnahme auf den Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung verpflichtet, der Klägerin Kindergeld auszuzahlen. Soweit das FG jedoch sinngemäß entschieden hat, dass die Klägerin jedenfalls auch im Zeitpunkt des Ergehens der Einspruchsentscheidung einen Auszahlungsanspruch in Höhe des Kindergelds für die Monate Mai 2018 bis April 2019 gehabt habe, ist die Vorentscheidung nicht zu beanstanden.
1. Ist streitig, ob der Auszahlung des festgesetzten Kindergelds § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. entgegensteht, ist gemäß § 218 Abs. 2 Satz 1 AO ein Abrechnungsbescheid zu erlassen (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 21.09.2021 ‑ VII R 9/18, BFH/NV 2022, 44, Rz 26, m.w.N.). Auch wenn die Familienkasse ihre Entscheidung nicht als "Abrechnungsbescheid" bezeichnet und § 218 Abs. 2 AO nicht erwähnt hat, liegt ein solcher vor, wenn sich aus dem Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung ergibt, dass die Familienkasse nicht über die Festsetzung von Kindergeld, sondern über den Anspruch des Kindergeldberechtigten auf Auszahlung des festgesetzten Kindergelds entschieden hat (Senatsurteil vom 19.02.2020 ‑ III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704, Rz 14, m.w.N.).
2. Die Abrechnung ist auf der Basis der formellen Bescheidlage vorzunehmen (Senatsurteil vom 19.02.2020 ‑ III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704, Rz 31). Maßgeblich ist der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung; das ist regelmäßig ‑‑wenn der Abrechnungsbescheid später nicht noch einmal (zum Beispiel auf Anregung des FG) geändert wird‑‑ der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung im Abrechnungsverfahren (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 21.09.2021 ‑ VII R 9/18, BFH/NV 2022, 44, Rz 26, m.w.N.).
a) Für den Abrechnungsbescheid betreffend die Auszahlung von Kindergeld ist auf die im maßgeblichen Zeitpunkt wirksame (§ 124 AO) Kindergeldfestsetzung abzustellen; ob sie rechtmäßig oder rechtswidrig ist, ob sie bestandskräftig ist oder noch geändert werden könnte, ist ohne Belang, solange sie nicht nichtig (§ 124 Abs. 3 AO) oder erledigt ist (§ 124 Abs. 2 AO).
Wurde das Kindergeld entgegen § 66 Abs. 3 EStG a.F. ohne Einschränkung auf die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, rückwirkend festgesetzt, ist diese Festsetzung im Abrechnungsverfahren maßgeblich. Das FG kann die Kindergeldfestsetzung im Abrechnungsverfahren nicht ändern oder korrigieren; es ist an die Bescheidlage gebunden. Das gilt auch dann, wenn der Bescheid, mit dem die Familienkasse das Kindergeld festgesetzt hat, zum Beispiel wegen Verletzung von § 66 Abs. 3 EStG a.F. rechtswidrig sein sollte.
b) Die im Abrechnungsbescheid erfolgende Entscheidung über das Bestehen des Anspruchs auf Auszahlung des festgesetzten Kindergelds hängt davon ab, dass die betreffende Kindergeldforderung im maßgeblichen Zeitpunkt noch nicht gemäß § 47 AO erloschen ist (zum Beispiel durch Erfüllung oder Aufrechnung).
c) Dem festgesetzten Kindergeldanspruch darf außerdem keine dem Erhebungsverfahren zuzuordnende Auszahlungsbeschränkung entgegenstehen. Im Streitfall kommt insoweit allein § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. in Betracht, wonach die Auszahlung des festgesetzten Kindergelds auf die letzten sechs Kalendermonate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist, beschränkt ist.
aa) Die in § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. geregelte, verfassungsgemäße Auszahlungsbeschränkung (vgl. Senatsbeschluss vom 22.09.2022 ‑ III R 21/21, BFHE 278, 201, BStBl II 2023, 249; Brandis/Heuermann/Selder, § 70 EStG Rz 19) betrifft nur Anträge, welche nach dem 18.07.2019 eingegangen sind (§ 52 Abs. 50 Satz 1 EStG). Für Anträge, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingegangen sind und für die somit § 66 Abs. 3 EStG a.F. gilt (§ 52 Abs. 49a Satz 8 i.d.F. bis 29.02.2020 bzw. Satz 10 i.d.F. ab 01.03.2020), gibt es keine derartige, dem Erhebungsverfahren zuzuordnende Auszahlungsbeschränkung. § 66 Abs. 3 EStG a.F. betrifft vielmehr das Festsetzungsverfahren (Senatsurteil vom 19.02.2020 ‑ III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704). Im Erhebungsverfahren und damit auch im Abrechnungsbescheid ist § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht zu berücksichtigen.
bb) Für die Frage, ob ein wirksamer Kindergeldantrag vorliegt und wann er eingegangen ist, ist bei Antragseingang bis einschließlich 09.12.2020 § 67 Satz 1 EStG i.d.F. vor Inkrafttreten des Gesetzes zur Digitalisierung von Verwaltungsverfahren bei der Gewährung von Familienleistungen vom 03.12.2020 (BGBl I 2020, 2668) maßgeblich. Hiernach war der Antrag auf Kindergeld "schriftlich" zu stellen. Der zweite Halbsatz ("eine elektronische Antragstellung nach amtlich vorgeschriebenem Datensatz über die amtlich vorgeschriebene Schnittstelle ist zulässig, soweit der Zugang eröffnet wurde") wurde erst mit Wirkung ab dem 10.12.2020 eingefügt und ist für vorher gestellte Anträge ohne Belang.
cc) Jedenfalls bis einschließlich 09.12.2020 ‑‑und damit auch im Juli 2019‑‑ konnte ein Kindergeldantrag auch mit einer einfachen E‑Mail ohne Beifügung des amtlichen Vordrucks im PDF gestellt werden, selbst wenn sie nur einfach und nicht qualifiziert elektronisch signiert war, also keine Unterschrift und kein elektronisch erstelltes Unterschriftssurrogat enthielt. Ob sich dies ab dem 10.12.2020 durch das Einfügen des zweiten Halbsatzes in § 67 Satz 1 EStG geändert hat, muss der Senat im Streitfall nicht entscheiden.
(1) Die Verwendung des amtlichen Vordrucks war für die Antragstellung nicht erforderlich (Senatsbeschluss vom 25.08.2009 ‑ III B 136/08, juris; Brandis/Heuermann/Selder, § 67 EStG Rz 11; Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A Steuerlicher Familienleistungsausgleich, I. Kommentierung, § 67 Rz 3; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach ‑‑HHR‑‑, § 67 EStG Rz 6). Es war auch nicht notwendig, dass der Berechtigte ausdrücklich einen "Antrag" stellte. Es genügte, dass sich dies dem Text durch Auslegung entnehmen ließ. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Bürger diejenige Verfahrenserklärung abgeben will, die erforderlich ist, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg ‑‑hier die Zahlung von Kindergeld durch die Familienkasse‑‑ zu kommen (FG Hamburg, Urteil vom 06.07.1999 ‑ I 1174/97, juris; Janda in Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 67 Rz B 15).
(2) Gemäß § 87a Abs. 1 Satz 1 AO (in die Abgabenordnung eingefügt durch Art. 4 Nr. 4 des Dritten Gesetzes zur Änderung verwaltungsverfahrensrechtlicher Vorschriften vom 21.08.2002, BGBl I 2002, 3322) war die Übermittlung elektronischer Dokumente zulässig, soweit der Empfänger hierfür einen Zugang eröffnet hatte. Gemäß § 87a Abs. 3 Satz 1 AO konnte die durch Gesetz für Anträge an die Finanzbehörden ‑‑zu denen auch die Familienkassen gehören (§ 6 Abs. 2 Nr. 6 AO)‑‑ angeordnete Schriftform durch eine elektronische Form ersetzt werden. Gemäß § 87a Abs. 3 Satz 2 AO genügte der elektronischen Form ein elektronisches Dokument, das mit einer qualifizierten elektronischen Signatur versehen ist. Da eine qualifizierte Signatur eine Unterschrift ersetzt, war sie jedoch nur in den Fällen erforderlich, in denen ein Unterschriftserfordernis besteht (vgl. BFH-Urteile vom 18.10.2006 ‑ XI R 22/06, BFHE 215, 47, BStBl II 2007, 276, unter II.1., zur Klageerhebung; vom 26.10.2006 ‑ V R 40/05, BFHE 215, 53, BStBl II 2007, 271, zur Klagerücknahme ohne qualifizierte Signatur; Anwendungserlass zur Abgabenordnung Nr. 3.2.4. Satz 1 und 2 zu § 87a AO; Koenig/Hahlweg, Abgabenordnung, 4. Aufl., § 87a Rz 43; Schmieszek in Gosch, AO § 87a Rz 71; Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 87a AO Rz 111 f.; a.A. Brandis in Tipke/Kruse, § 87a AO Rz 13). Ansonsten genügte in den Fällen des § 87a Abs. 1 Satz 1 AO, in denen der Empfänger einen Zugang für die Übermittlung elektronischer Dokumente geschaffen hat, eine E‑Mail mit einem die Person des Antragstellers erkennbar machenden Zusatz, wie etwa einer Namensangabe als Abschluss der E‑Mail.
(3) Entgegen der von der Familienkasse vertretenen Auffassung (vgl. V 5.2 Abs. 1 Satz 1 und 2 der Dienstanweisung des Bundeszentralamts für Steuern zum Kindergeld nach dem EStG 2023) enthielt (und enthält) § 67 Satz 1 EStG kein Unterschriftserfordernis.
(a) Im Steuerrecht kann aus dem Begriff "schriftlich", wie er in § 67 Satz 1 EStG verwendet wird, nicht ohne Weiteres ein Unterschriftserfordernis im Sinne des § 126 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) abgeleitet werden (vgl. Senatsurteil vom 13.05.2015 ‑ III R 26/14, BFHE 250, 12, BStBl II 2015, 790, Rz 15, m.w.N.). § 67 Satz 1 EStG, § 66 Abs. 3 EStG a.F. und § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. enthalten keine Regelung, wonach der Antrag unterschrieben worden sein muss, um die Sechs-Monats-Frist in Gang zu setzen (vgl. das Unterschriftserfordernis in § 46 Abs. 3 Satz 2 AO, § 95 Abs. 5 Satz 3 AO, § 7 Abs. 2 Satz 1 des Investitionszulagengesetzes 2010 oder § 25 Abs. 3 Satz 1 EStG i.V.m. § 150 Abs. 3 AO). Die Vorschriften enthalten umgekehrt aber auch keine eindeutige Regelung, dass ein Kindergeldantrag nicht unterschrieben werden muss, um die Bearbeitung des Kindergeldantrags anzustoßen und die Sechs-Monats-Frist in Gang zu setzen.
(b) Folgt aus dem Wortlaut einer gesetzlichen Vorschrift kein eindeutiges Unterschriftserfordernis, kann ein solches allein anhand ihres Wortlauts aber auch nicht ausgeschlossen werden, ist in Fällen, in denen das Gesetz den Begriff "schriftlich" verwendet, im Wege der Auslegung zu ermitteln, ob eine der Funktionen erfüllt werden muss, die der Unterschrift zugeordnet werden (z.B. die Abschluss-, Perpetuierungs‑, Identitäts‑, Echtheits‑, Verifikations‑, Beweis- und Warnfunktion; vgl. etwa Senatsurteil vom 13.05.2015 ‑ III R 26/14, BFHE 250, 12, BStBl II 2015, 790, Rz 15, m.w.N.; Schmieszek in Gosch, AO § 87a Rz 73).
Im Fall des § 67 Satz 1 EStG sprechen Sinn und Zweck der Vorschrift dafür, keine Unterschrift des Kindergeldberechtigten oder seines Vertreters zu verlangen. § 126 Abs. 1 BGB ist nicht anzuwenden.
Das Kindergeld dient dazu, einen Einkommensbetrag in Höhe des Kinderexistenzminimums von der Besteuerung freizustellen. Soweit es dazu nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 1 und 2 EStG). Was die Freistellung des Kinderexistenzminimums anbelangt, ist zu berücksichtigen, dass das Kindergeld schon während des laufenden Jahres einen (vorläufigen) Ausgleich für den über die Lohnsteuer oder die Einkommensteuervorauszahlungen erfolgenden Zugriff des Staates auf den für den Kindesunterhalt erforderlichen Einkommensanteil schaffen soll. Schon dies spricht dafür, den Zugang zum Kindergeld niederschwellig zu halten und vom Kindergeldberechtigten nicht mehr zu fordern, als für die Einleitung und die ordnungsgemäße Durchführung des Verwaltungsverfahrens erforderlich ist. Aber auch soweit das Kindergeld eine einkommensteuerrechtliche Förderung der Familie durch eine Sozialzwecknorm (s. hierzu Senatsurteil vom 09.02.2012 ‑ III R 68/10, BFHE 236, 421, BStBl II 2012, 686, Rz 14, m.w.N.) beinhaltet, entspricht es dem vom Gesetzgeber verfolgten Förderzweck, den Zugang zum Kindergeld nicht durch strenge Formanforderungen zu erschweren.
Bei einem Antrag, der die Bearbeitung lediglich anstößt, aber noch nicht unmittelbar zum Abschluss des Verfahrens führt, muss zwar die Identität des Antragstellers feststellbar sein und erkennbar sein, dass und für welche Kinder er Kindergeld begehrt. "Schriftlich" bedeutet hiernach im Fall des § 67 Satz 1 EStG, dass der Kindergeldantrag verschriftlicht sein muss, damit sein Inhalt im Verwaltungsverfahren, aber auch im Rechtsbehelfs- und Klageverfahren dokumentiert und überprüfbar ist. Ein rein mündlicher (nicht förmlich zu Protokoll erklärter) und insbesondere ein telefonisch gestellter Antrag genügt diesen Anforderungen nicht (Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A Steuerlicher Familienleistungsausgleich, I. Kommentierung, § 67 Rz 5; HHR/Wendl, § 67 EStG Rz 6), denn es ließe sich im Nachhinein nicht stets verlässlich überprüfen, ob und gegebenenfalls für welche Kinder und für welche Monate ein Kindergeldantrag gestellt wurde. Eine Unterschrift des Antragstellers oder seines Vertreters ist zu Dokumentationszwecken hingegen nicht erforderlich, sondern kann gegebenenfalls dann gefordert werden, wenn Zweifel an der Urheberschaft der Erklärung bestehen.
Zum Schutz oder zur besonderen Warnung des Antragstellers vor den Folgen seines Antrags ist beim Antrag auf Kindergeld ebenfalls keine Unterschrift erforderlich; der Kindergeldantrag hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist gemäß § 171 Abs. 3 AO und bewirkt, dass das Kindergeld ‑‑gegebenenfalls nach weiteren Verfahrensschritten‑‑ festgesetzt werden kann.
(4) Da eine qualifizierte Signatur ‑‑wie ausgeführt‑‑ eine Unterschrift ersetzt und für einen Kindergeldantrag kein Unterschriftserfordernis besteht, genügte im Streitfall eine E‑Mail ohne qualifizierte elektronische Signatur, um einen formwirksamen Kindergeldantrag zu stellen.
3. Nach diesen Grundsätzen hat das FG zutreffend entschieden, dass der angefochtene Abrechnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig ist, weil die Klägerin jedenfalls am 29.06.2020 einen noch zu erfüllenden Kindergeldanspruch für zwei Kinder für die Monate Mai 2018 bis einschließlich April 2019 hatte.
Das FG hätte den Abrechnungsbescheid allerdings nicht aufheben dürfen, sondern es hätte ihn ‑‑wie aus dem Tenor ersichtlich‑‑ korrigieren und dabei auf den Zeitpunkt des Ergehens der letzten Verwaltungsentscheidung im Abrechnungsverfahren abstellen müssen. Zuvor hätte es gemäß § 76 Abs. 2 FGO auf einen entsprechenden Antrag der Klägerin hinwirken müssen.
a) Wie ausgeführt, ist im Abrechnungsverfahren die formelle Bescheidlage im Zeitpunkt des Ergehens der letzten Verwaltungsentscheidung im Abrechnungsverfahren ‑‑hier der Einspruchsentscheidung‑‑ maßgeblich. Bei Ergehen der Einspruchsentscheidung am 29.06.2020 war der Bescheid vom 17.12.2019, mit dem die Familienkasse das Kindergeld ohne Einschränkung für die Monate ab Mai 2018 festgesetzt hatte, wirksam. Ein Verstoß gegen § 66 Abs. 3 EStG a.F. führt für sich genommen nicht zur Nichtigkeit der Kindergeldfestsetzung. Ob das Kindergeld gemäß § 66 Abs. 3 EStG a.F. erst ab Januar 2019 festgesetzt hätte werden dürfen und ob der Bescheid rechtswidrig war, ist im Abrechnungsverfahren ohne Belang.
b) Anhaltspunkte dafür, dass der Zahlungsanspruch der Klägerin bei Ergehen der Einspruchsentscheidung im Abrechnungsverfahren zum Beispiel durch Erfüllung erloschen war, bestehen nicht.
c) Dem Kindergeldanspruch der Klägerin stand keine dem Erhebungsverfahren zuzuordnende Auszahlungsbeschränkung entgegen.
§ 66 Abs. 3 EStG a.F. betrifft ‑‑wie ausgeführt‑‑ das Festsetzungsverfahren. Im Erhebungsverfahren und damit auch im Abrechnungsbescheid ist § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht zu berücksichtigen. § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. ist im Streitfall nicht anwendbar. Die Vorschrift gilt erst für nach dem 18.07.2019 gestellte Anträge. Nach den revisionsrechtlich nicht zu beanstandenden Feststellungen des FG hat die Klägerin jedoch bereits am 16.07.2019 mit einer E‑Mail einen wirksamen Kindergeldantrag gestellt.aa) Die E‑Mail vom 16.07.2019 war nach den oben dargestellten Grundsätzen unter Berücksichtigung von § 87a Abs. 1 Satz 1 AO ein formwirksamer Kindergeldantrag im Sinne des § 67 Satz 1 EStG in der bis einschließlich 09.12.2020 geltenden Fassung. Die Übermittlung elektronischer Dokumente war nach § 87a Abs. 1 Satz 1 AO zulässig, weil die Familienkasse hierfür einen Zugang eröffnet hatte. Dass die E‑Mail nicht qualifiziert signiert und dass ihr auch sonst keine Unterschrift (zum Beispiel im PDF) beigefügt war, ist ‑‑wie ausgeführt‑‑ ohne Belang, da auch ein schriftlich gestellter Kindergeldantrag nicht unterschrieben werden musste.
bb) Das Fehlen einer Unterschrift und einer qualifizierten elektronischen Signatur führte im Streitfall auch nicht zu Zweifeln der Familienkasse an der Ernsthaftigkeit und der Urheberschaft des Antrags der kindergeldberechtigten Klägerin. Nach den Feststellungen des FG konnte die Familienkasse bereits aus der E‑Mail vom 16.07.2019 den vollständigen Namen und die Adresse der Klägerin, die frühere Kindergeldnummer und die Höhe des begehrten Kindergelds sowie den Zeitraum, für den das Kindergeld festgesetzt werden sollte, erkennen und ohne Weiteres ableiten, für welche Kinder sie Kindergeld begehrte.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO. Die Klägerin ist an den Verfahrenskosten nicht zu beteiligen. Der Senat legt ihren Antrag vor dem FG rechtsschutzgewährend dahin aus, dass sie mit der Klage eine Korrektur des Abrechnungsbescheids zum 29.06.2020 anstrebte; im Übrigen wäre § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO anzuwenden gewesen.
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Uwe Lewin, Geschäftsführer Exacta Steuerberatungs GmbH, 07546 Gera