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EuGH: Selektivität, Verlustabzug, Anteilseignerwechsel, Ermessen, Finnland

Staatliche Beihilfen – Art. 107 AEUV und 108 AEUV – Kriterium der 'Selektivität' – Verordnung (EG) Nr. 659/1999 – Art. 1 Buchst. b Ziff. i – Bestehende Beihilfe – Nationale Regelung auf dem Gebiet der Körperschaftsteuer – Abzugsfähigkeit der erlittenen Verluste – Keine Abzugsfähigkeit bei einem Anteilseignerwechsel – Genehmigung von Ausnahmen – Ermessen der Steuerverwaltung

EuGH-Urteil vom 18.7.2013, Rechtssache C-6/12

  1. Ein Steuersystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende kann das Kriterium der Selektivität als Bestandteil des Begriffs „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen, wenn sich erweisen sollte, dass das Bezugssystem, d. h. das „normale“ System, in dem Verbot des Verlustabzugs bei einem Anteilseignerwechsel im Sinne von § 122 Abs. 1 des Gesetzes Nr. 1535/1992 vom 30. Dezember 1992 über die Einkommensteuer (Tuloverolaki) besteht, dem gegenüber die Genehmigungsregelung nach Abs. 3 dieser Vorschrift eine Ausnahme darstellen würde. Eine solche Regelung kann durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems, in das sie sich einfügt, gerechtfertigt sein, wobei diese Rechtfertigung es ausschließt, dass die zuständige nationale Behörde in Bezug auf die Genehmigung einer Abweichung vom Verbot des Verlustabzugs über ein Ermessen verfügt, das sie dazu ermächtigt, ihre Genehmigungsentscheidungen auf Kriterien zu stützen, die diesem Steuersystem fremd sind. Der Gerichtshof verfügt jedoch nicht über hinreichende Informationen, um über diese Einordnungen abschließend zu befinden.
  2. Art. 108 Abs. 3 AEUV verbietet es nicht, dass ein Steuersystem wie das in § 122 Abs. 1 und 3 des Gesetzes Nr. 1535/1992 vorgesehene, falls es als „staatliche Beihilfe“ zu qualifizieren sein sollte, aufgrund seiner Eigenschaft als „bestehende Beihilfe“ in dem Mitgliedstaat, der dieses Steuersystem eingeführt hat, weitergilt, unbeschadet der in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Befugnis der Kommission.

1        Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung der einschlägigen Vorschriften des Unionsrechts über staatliche Beihilfen.

2        Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der P Oy (im Folgenden: P) und den für die Körperschaftsteuer zuständigen nationalen Behörden über deren Weigerung, ihr den nach der geltenden nationalen Regelung grundsätzlich vorgesehenen Abzug der ihr entstandenen Betriebsverluste und den Ausgleich dieser Verluste während der folgenden Steuerjahre zu genehmigen.

Rechtlicher Rahmen

Unionsrecht

3        Art. 1 („Definitionen“) der Verordnung (EG) Nr. 659/1999 des Rates vom 22. März 1999 über besondere Vorschriften für die Anwendung von Artikel [108 AEUV] (ABl. L 83, S. 1) sieht vor:

„Für die Zwecke dieser Verordnung bezeichnet der Ausdruck

...

b)      'bestehende Beihilfen':

i)      unbeschadet der Artikel 144 und 172 der Akte [über die Bedingungen des Beitritts der Republik Österreich, der Republik Finnland und des Königreichs Schweden und die Anpassungen der die Europäische Union begründenden Verträge (ABl. 1994, C 241, S. 21, und ABl. 1995, L 1, S. 1, im Folgenden: Beitrittsakte)] alle Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrages in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrages eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind;

...“

Finnisches Recht

4        § 117 („Verluste und Verlustabzug“) des Gesetzes Nr. 1535/1992 vom 30. Dezember 1992 über die Einkommensteuer (Tuloverolaki, im Folgenden: TVL) sieht vor:

„Die festgestellten Verluste werden nach Maßgabe dieses Abschnitts von den Einkünften der Folgejahre abgezogen.

Die Verluste werden in der Reihenfolge in Abzug gebracht, in der sie entstanden sind.“

5        § 119 TVL („Verluste aus gewerblicher oder landwirtschaftlicher Tätigkeit“) bestimmt:

„Die Verluste des Steuerjahres aus einer gewerblichen oder landwirtschaftlichen Tätigkeit werden während der folgenden zehn Steuerjahre von den Einkünften aus der gewerblichen oder landwirtschaftlichen Tätigkeit in dem Maße abgezogen, in dem diese Einkünfte erzielt werden.

Unter Verlusten aus einer gewerblichen Tätigkeit ist der gemäß dem Gesetz über die Besteuerung der Einkünfte aus gewerblicher Tätigkeit (laki elinkeinotulon verottamisesta) berechnete Betrag der Verluste zu verstehen ...“

6        Nach § 122 Abs. 1 TVL („Wirkungen eines Anteilseignerwechsels auf die Abzugsfähigkeit von Verlusten“) werden Verluste einer Gesellschaft nicht in Abzug gebracht, wenn im Verlustjahr oder danach über die Hälfte ihrer Aktien oder Anteile aufgrund eines anderen Erwerbs als einer Erbschaft oder eines Testaments den Anteilseigner gewechselt hat oder über die Hälfte ihrer Mitglieder gewechselt hat.

7        § 122 Abs. 3 TVL bestimmt, dass das zuständige Finanzamt unbeschadet der Bestimmungen des Abs. 1 den Verlustabzug aus besonderen Gründen, wenn es für die Fortsetzung der Tätigkeit der Gesellschaft erforderlich ist, auf Antrag genehmigen kann.

8        Zur Klarstellung der in § 122 Abs. 3 TVL enthaltenen Bestimmung und zur Angleichung der Verwaltungspraktiken veröffentlichte die finnische Generaldirektion Steuern am 14. Februar 1996 das Anweisungsschreiben Nr. 634/348/96 mit folgenden relevanten Bestimmungen:

„2.      Verfahren zur Erteilung von Ausnahmegenehmigungen

2.1      Voraussetzungen für die Genehmigung

Gemäß § 122 TVL kann eine [Gesellschaft] auf Antrag eine Genehmigung für den Abzug der festgestellten Verluste erhalten, wenn dies für die Fortsetzung ihrer Tätigkeit erforderlich ist.

Als besondere Gründe können insbesondere angesehen werden:

–        Übertragungen im Rahmen eines Generationswechsels;
–        Verkäufe von Unternehmen an die Mitarbeiter;
–        Kauf eines neuen Unternehmens, das noch keine Geschäftstätigkeit hat;
–        Anteilseignerwechsel innerhalb eines Konzerns;
–        Anteilseignerwechsel im Zusammenhang mit einem Sanierungsplan;
–        besondere Auswirkungen auf die Beschäftigung;
–        Anteilseignerwechsel von börsennotierten Gesellschaften.

2.1.1            Besondere Bedingungen

Zweck der Bestimmungen des § 122 TVL ist es, zu verhindern, dass verlustbringende Unternehmen zu Handelswaren werden. Wenn der Anteilseignerwechsel die genannten Merkmale nicht aufweist, kann die Genehmigung für den Abzug der Verluste erteilt werden.

...

2.1.2 Fortsetzung der Tätigkeit

Die Genehmigung für den Abzug der Verluste kann erteilt werden, wenn der Abzug für die Fortsetzung der Tätigkeit der [Gesellschaft] erforderlich ist. Eine absolute Voraussetzung kann sein, dass die [Gesellschaft] ihre Tätigkeit nach dem Anteilseignerwechsel fortsetzt. Wenn die [Gesellschaft] ihre Tätigkeit tatsächlich eingestellt hat und ihr Wert im Wesentlichen auf den festgestellten Verlusten beruht, ist die Ausnahmegenehmigung nicht zu erteilen.“

9        In der Mitteilung Nr. 2/1999 der finnischen Generaldirektion Steuern vom 17. Februar 1999 wird als besonderer Grund noch die Ausweitung der Tätigkeit im Wege von Unternehmenskäufen genannt.

Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

10      Aus den dem Gerichtshof vorgelegten Akten ergibt sich, dass die 1998 gegründete Gesellschaft P am 3. September 2008 bei der zuständigen Steuerbehörde den Antrag stellte, ihr trotz des im August 2004 erfolgten Anteilseignerwechsels gemäß § 122 Abs. 3 TVL den Abzug der ihr in den Steuerjahren 1998 bis 2004 entstandenen Verluste zu genehmigen. Die wirtschaftliche Tätigkeit des Unternehmens war nach diesem Anteilseignerwechsel wie auch nach später erfolgten Anteilseignerwechseln fortgesetzt worden. Dieser Antrag wurde von der zuständigen Steuerbehörde am 24. Oktober 2008 mit der Begründung abgelehnt, dass P keine besonderen Gründe nachgewiesen habe, aufgrund deren die Erteilung dieser Genehmigung trotz der erfolgten Anteilseignerwechsel gerechtfertigt gewesen wäre.

11      Mit Entscheidung vom 2. Dezember 2009 wies das Helsingin hallinto-oikeus (Verwaltungsgericht Helsinki) die Klage von P aus denselben Gründen wie den von der zuständigen Steuerbehörde angegebenen ab. P legte gegen diese Entscheidung Beschwerde beim Korkein hallinto-oikeus ein, der sich im Wesentlichen die Frage stellt, ob die Vorschriften des Unionsrechts auf dem Gebiet der staatlichen Beihilfen und insbesondere das Kriterium der Selektivität, ausgelegt unter Berücksichtigung des Ermessens, über das die Steuerbehörde im vorliegenden Fall verfügt, dem Erlass einer Entscheidung entgegenstehen, mit der die Abzugsfähigkeit von Verlusten einer Gesellschaft trotz des Wechsels ihrer Anteilseigner genehmigt wird, wenn die Europäische Kommission nicht ordnungsgemäß nach Art. 108 Abs. 3 AEUV von dieser Maßnahme unterrichtet wurde.

12      Nach Auffassung des vorlegenden Gerichts ist zur Beurteilung der Selektivität einer Maßnahme zu prüfen, ob sie im Rahmen einer bestimmten rechtlichen Regelung bestimmte Unternehmen gegenüber anderen, die sich in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden, begünstigt. Der Bestimmung des Bezugsrahmens komme im Fall von steuerlichen Maßnahmen eine besondere Bedeutung zu, da das tatsächliche Vorliegen einer Vergünstigung nur in Bezug auf eine sogenannte „normale“ Besteuerung festgestellt werden könne.

13      Das vorlegende Gericht stellt fest, dass es zwei Möglichkeiten für die Bestimmung dieses Bezugsrahmens gebe. Die erste Möglichkeit bestehe darin, dass die Grundregel des in den §§ 117 und 119 TVL vorgesehenen Verlustausgleichs diesen Rahmen bilde, was dazu führe, dass die Ausnahmegenehmigung in den Fällen des Anteilseignerwechsels nicht zu einer im Vergleich zur Grundregel günstigeren Lage führe. Nach der zweiten Möglichkeit stelle § 122 Abs. 1 TVL, wonach Verluste nach einem Anteilseignerwechsel nicht in Abzug gebracht werden könnten, den Bezugsrahmen dar. Im Verhältnis zu diesem Bezugsrahmen gewähre die Ausnahmeregelung des § 122 Abs. 3 TVL der Steuerverwaltung ein Ermessen, so dass sie ein Unternehmen, dem eine Genehmigung erteilt werde, in eine günstigere Lage versetzen könne als ein Unternehmen, dem im Genehmigungsverfahren kein Abzugsrecht gewährt worden sei.

14      Das vorlegende Gericht stellt ferner fest, dass nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs staatliche Maßnahmen, die zwischen Unternehmen differenzierten und damit grundsätzlich selektiv seien, gerechtfertigt sein könnten, wenn diese Differenzierung aus der Natur oder dem inneren Aufbau des Systems folge, das diese Maßnahmen umfasse. Es weist insoweit darauf hin, dass das mit der im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Regelung geschaffene Steuersystem darauf abziele, die missbräuchliche Ausnutzung von Verlusten und Geschäfte mit ihnen auszuschließen. Ein solches Risiko bestehe insbesondere bei Verluste aufweisenden Unternehmen ohne Geschäftsbetrieb, die andere Unternehmen durch verschiedene Vorkehrungen zu erwerben versuchen könnten, um diese Verluste mit ihren eigenen Gewinnen verrechnen zu können. Das Ermessen, über das die Steuerverwaltung vorliegend verfüge, könne im Rahmen dieses Steuersystems in seiner Gesamtheit betrachtet werden, dessen Ziel darin bestehe, die Abzugsfähigkeit von Verlusten in all jenen Fällen zu gewähren, in denen eine Missbrauchsgefahr nicht nachgewiesen sei.

15      In Anbetracht dieser Erwägungen hat das Korkein hallinto‑oikeus beschlossen, das Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

  1. Ist das Kriterium der Selektivität in Art. 107 Abs. 1 AEUV in Bezug auf ein Genehmigungsverfahren wie das in § 122 Abs. 3 TVL vorgesehene dahin auszulegen, dass es einer Genehmigung des Verlustabzugs bei einem Anteilseignerwechsel entgegensteht, wenn dabei das Verfahren des Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV nicht eingehalten wird?
  2. Ist im Rahmen der Auslegung des Selektivitätskriteriums insbesondere bei der Bestimmung der Bezugsgruppe auf die in den §§ 117 und 119 TVL zum Ausdruck gebrachte Grundregel abzustellen, wonach eine Gesellschaft die festgestellten Verluste in Abzug bringen darf, oder ist bei der Auslegung des Selektivitätskriteriums auf die Vorschriften abzustellen, die Anteilseignerwechsel betreffen?
  3. Kann, wenn das Selektivitätskriterium des Art. 107 AEUV als grundsätzlich erfüllt angesehen wird, eine Regelung wie die des § 122 Abs. 3 TVL als gerechtfertigt angesehen werden, weil es sich um einen dem Steuersystem inhärenten Mechanismus handelt, der z. B. zur Verhinderung von Steuerumgehungen unerlässlich ist?
  4. Welche Bedeutung ist bei der Beurteilung, ob ein etwaiger Rechtfertigungsgrund vorliegt und ob es sich um einen dem Steuersystem inhärenten Mechanismus handelt, dem Umfang des Ermessensspielraums der Behörden zuzumessen? Wird für den dem Steuersystem inhärenten Mechanismus verlangt, dass dem Gesetzesanwender kein Ermessen verbleibt und die Anwendungsvoraussetzungen der Ausnahme im Gesetz genau bestimmt sind?

Zu den Vorlagefragen

Zu den Fragen 2 bis 4

16      Mit seinen Fragen 2 bis 4, die zusammen als Erstes zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob ein Steuersystem wie das sich aus § 122 Abs. 1 und 3 TVL ergebende das Kriterium der Selektivität als Bestandteil des Begriffs „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllt und, falls ja, ob die in § 122 Abs. 3 TVL vorgesehene Ausnahme durch den Umstand gerechtfertigt ist, dass sie dem Steuersystem inhärent ist. Das vorlegende Gericht wünscht vom Gerichtshof auch Aufklärung darüber, welche Bedeutung dem Umfang des Ermessens der zuständigen Behörden bei der Anwendung dieses Systems zukommen kann.

17      Vorab ist darauf hinzuweisen, dass Art. 107 Abs. 1 AEUV Beihilfen, die „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ begünstigen, also selektive Beihilfen, grundsätzlich verbietet.

18      Somit ist eine Maßnahme, mit der die staatlichen Stellen bestimmten Unternehmen eine steuerliche Vergünstigung gewähren, die zwar nicht mit der Übertragung staatlicher Mittel verbunden ist, aber die Begünstigten finanziell besser stellt als die übrigen Steuerpflichtigen, eine staatliche Beihilfe im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV. Dagegen stellen Vorteile aus einer unterschiedslos auf alle Wirtschaftsteilnehmer anwendbaren allgemeinen Maßnahme keine staatlichen Beihilfen im Sinne von Art. 107 AEUV dar (Urteil vom 15. November 2011, Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, C‑106/09 P und C‑107/09 P, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnrn. 72 und 73 und die dort angeführte Rechtsprechung).

19      Die Einstufung einer nationalen Steuermaßnahme als „selektiv“ setzt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs in einem ersten Schritt voraus, dass im Vorfeld die in dem betreffenden Mitgliedstaat geltende allgemeine oder „normale“ Steuerregelung ermittelt und geprüft wird. Anhand dieser allgemeinen oder „normalen“ Steuerregelung ist dann in einem zweiten Schritt zu beurteilen und festzustellen, ob der mit der fraglichen Steuermaßnahme gewährte Vorteil möglicherweise selektiv ist, wenn nämlich dargetan wird, dass diese Maßnahme vom allgemeinen System insofern abweicht, als sie Unterscheidungen zwischen Wirtschaftsteilnehmern einführt, die sich im Hinblick auf das mit der Steuerregelung dieses Mitgliedstaats verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befinden (vgl. Urteil vom 8. September 2011, Paint Graphos u. a., C‑78/08 bis C‑80/08, Slg. 2011, I-7611, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

20      Hierzu ist festzustellen, dass diese Qualifizierung nicht nur die Kenntnis des relevanten Inhalts der Rechtsvorschriften voraussetzt, sondern auch die Prüfung von deren Tragweite erfordert, gestützt auf die Verwaltungs- und Rechtsprechungspraxis und auf Informationen über den Umfang des persönlichen Anwendungsbereichs dieser Vorschriften.

21      Da das vorlegende Gericht nicht alle diese Informationen übermittelt hat, sieht sich der Gerichtshof nicht in der Lage, zu dieser Qualifizierung Stellung zu nehmen.

22      Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist die Voraussetzung der Selektivität nicht gegeben, wenn eine Maßnahme zwar einen Vorteil für den Begünstigten darstellt, aber durch das Wesen oder die allgemeinen Zwecke des Systems, zu dem sie gehört, gerechtfertigt ist (Urteil vom 8. November 2001, Adria-Wien Pipeline und Wietersdorfer & Peggauer Zementwerke, C‑143/99, Slg. 2001, I‑8365, Randnr. 42 und die dort angeführte Rechtsprechung). So kann eine Maßnahme, die eine Ausnahme von der Anwendung des allgemeinen Steuersystems darstellt, gerechtfertigt sein, wenn der betreffende Mitgliedstaat nachweisen kann, dass sie unmittelbar auf den Grund- oder Leitprinzipien seines Steuersystems beruht (vgl. Urteil Paint Graphos u. a., Randnr. 65 und die dort angeführte Rechtsprechung).

23      Insoweit ist festzustellen dass das Vorhandensein eines Genehmigungssystems für sich genommen eine solche Rechtfertigung nicht ausschließt.

24      Die Rechtfertigung ist nämlich möglich, wenn im Rahmen des Genehmigungsverfahrens das Ermessen der zuständigen Behörde auf die Prüfung von Voraussetzungen beschränkt ist, die aufgestellt wurden, um einem erkennbaren fiskalischen Zweck zu dienen, und die von dieser Behörde anzuwendenden Kriterien dem Steuersystem inhärent sind.

25      Was das Ermessen der zuständigen Behörde betrifft, so kann nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs eine Maßnahme nicht als Maßnahme allgemeiner Art angesehen werden, wenn dieser Behörde ein Ermessen eingeräumt wurde, das es ihr ermöglicht, die Begünstigten oder die Bedingungen der gewährten Maßnahme zu bestimmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 29. Juni 1999, DM Transport, C‑256/97, Slg. 1999, I‑3913, Randnr. 27 und die dort angeführte Rechtsprechung).

26      Somit kann die Anwendung eines Genehmigungssystems, das es wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende erlaubt, Verluste auf nachfolgende Steuerjahre vorzutragen, grundsätzlich nicht als selektiv angesehen werden, wenn die zuständigen Behörden bei ihrer Entscheidung über einen Antrag auf Genehmigung nur über ein Ermessen verfügen, das durch objektive Kriterien, die dem mit der betreffenden Regelung geschaffenen Steuersystem nicht fremd sind, begrenzt ist, wie etwa das Ziel, einen Handel mit Verlusten zu verhindern.

27      Verfügen die zuständigen Behörden dagegen über ein weites Ermessen, das es ihnen erlaubt, die Begünstigten und die Bedingungen der gewährten Maßnahme anhand von dem Steuersystem fremden Kriterien wie der Erhaltung von Arbeitsplätzen zu bestimmen, ist davon auszugehen, dass die Ausübung dieses Ermessens „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen, die sich im Hinblick auf das verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden, begünstigt (vgl. in diesem Sinne Urteil Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich, Randnr. 75).

28      Insoweit ergibt sich aber aus der Vorlageentscheidung, dass die finnische Generaldirektion Steuern ein in Randnr. 8 des vorliegenden Urteils erwähntes Anweisungsschreiben herausgegeben hat, in dem als „besonderer Grund“ für die Genehmigung einer Ausnahme vom Verbot des Verlustabzugs u. a. besondere Auswirkungen auf die Beschäftigung genannt werden.

29      In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass der Gerichtshof entschieden hat, dass die Anwendung einer Politik der regionalen Entwicklung oder des sozialen Zusammenhalts für sich allein nicht ausreicht, um eine im Rahmen dieser Politik erlassene Maßnahme als durch die Natur und den inneren Aufbau eines nationalen Steuersystems gerechtfertigt anzusehen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 6. September 2006, Portugal/Kommission, C‑88/03, Slg. 2006, I‑7115, Randnr. 82).

30      Auch wenn insoweit aus der Vorlageentscheidung hervorgeht, dass das erwähnte Anweisungsschreiben keinen rechtlich bindenden Charakter hat, ist festzustellen, dass, wenn es der zuständigen Behörde möglich sein sollte, die durch den Verlustabzug Begünstigten anhand von dem Steuersystem fremden Kriterien wie der Erhaltung von Arbeitsplätzen zu bestimmen, davon auszugehen wäre, dass mit einer solchen Ausübung dieses Ermessens „bestimmte Unternehmen oder Produktionszweige“ gegenüber anderen, die sich im Hinblick auf das verfolgte Ziel in einer vergleichbaren tatsächlichen und rechtlichen Situation befänden, begünstigt werden.

31      Der Gerichtshof verfügt jedoch nicht über hinreichende Informationen, um die Rechtfertigung des möglicherweise selektiven Charakters des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Steuersystems zu beurteilen.

32      Unter diesen Umständen ist auf die Fragen 2 bis 4 zu antworten, dass ein Steuersystem wie das im Ausgangsverfahren in Rede stehende das Kriterium der Selektivität als Bestandteil des Begriffs „staatliche Beihilfe“ im Sinne von Art. 107 Abs. 1 AEUV erfüllen kann, wenn sich erweisen sollte, dass das Bezugssystem, d. h. das „normale“ System, in dem Verbot des Verlustabzugs bei einem Anteilseignerwechsel im Sinne von § 122 Abs. 1 TVL besteht, dem gegenüber die Genehmigungsregelung nach Abs. 3 dieser Vorschrift eine Ausnahme darstellen würde. Eine solche Regelung kann durch die Natur oder den inneren Aufbau des Systems, in das sie sich einfügt, gerechtfertigt sein, wobei diese Rechtfertigung es ausschließt, dass die zuständige nationale Behörde in Bezug auf die Genehmigung einer Abweichung vom Verbot des Verlustabzugs über ein Ermessen verfügt, das sie dazu ermächtigt, ihre Genehmigungsentscheidungen auf Kriterien zu stützen, die diesem Steuersystem fremd sind. Der Gerichtshof verfügt jedoch nicht über hinreichende Informationen, um über diese Einordnungen abschließend zu befinden.

33      Außerdem wird darauf hingewiesen, dass die Selektivität nur eines der Kriterien für eine mit dem Binnenmarkt unvereinbare staatliche Beihilfe ist. Mangels entsprechender Informationen ist auch die Frage bezüglich weiterer Kriterien nicht Gegenstand der Prüfung durch den Gerichtshof.

Zur ersten Frage

34      Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob das in Art. 108 Abs. 3 AEUV angeordnete Verbot der Durchführung von Beihilfevorhaben der Anwendung des in § 122 Abs. 1 und 3 TVL vorgesehenen Steuersystems entgegensteht.

35      Was die Kontrolle der Beachtung der den Mitgliedstaaten durch die Art. 107 AEUV und 108 AEUV auferlegten Verpflichtungen angeht, ist auf die Struktur des Art. 108 AEUV und die sich aus diesen Vorschriften für die Kommission einerseits und für die Mitgliedstaaten andererseits ergebenden Befugnisse und Verantwortlichkeiten hinzuweisen.

36      Art. 108 AEUV sieht unterschiedliche Verfahren vor, je nachdem, ob es sich um bestehende oder neue Beihilfen handelt. Während neue Beihilfen gemäß Art. 108 Abs. 3 AEUV zuvor der Kommission zu melden sind und nicht durchgeführt werden dürfen, bevor das Verfahren zu einer abschließenden Entscheidung geführt hat, dürfen bestehende Beihilfen gemäß Art. 108 Abs. 1 AEUV regelmäßig durchgeführt werden, solange die Kommission nicht ihre Vertragswidrigkeit festgestellt hat (Urteil vom 29. November 2012, Kremikovtzi, C‑262/11, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 49 und die dort angeführte Rechtsprechung).

37      Im Rahmen dieses Kontrollsystems nehmen die Kommission und die nationalen Gerichte unterschiedliche Verantwortlichkeiten und Befugnisse wahr (Urteil vom 9. August 1994, Namur-Les assurances du crédit, C‑44/93, Slg. 1994, I‑3829, Randnr. 14).

38      Die nationalen Gerichte können mit Rechtsstreitigkeiten befasst werden, in deren Rahmen sie den in Art. 107 Abs. 1 AEUV enthaltenen Beihilfebegriff auszulegen und anzuwenden haben, um insbesondere zu bestimmen, ob eine ohne Beachtung des in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Vorprüfungsverfahrens eingeführte staatliche Maßnahme diesem Verfahren hätte unterworfen werden müssen. Dagegen sind sie nicht zuständig, darüber zu befinden, ob eine staatliche Beihilfe mit dem Binnenmarkt vereinbar ist (Urteil vom 18. Juli 2007, Lucchini, C‑119/05, Slg. 2007, I‑6199, Randnrn. 50 und 51 und die dort angeführte Rechtsprechung).

39      Während die Kommission verpflichtet ist, die Vereinbarkeit der beabsichtigten Beihilfe mit dem Binnenmarkt selbst dann zu prüfen, wenn der Mitgliedstaat das in Art. 108 Abs. 3 Satz 3 AEUV enthaltene Verbot der Durchführung von Beihilfemaßnahmen verletzt, schützen die nationalen Gerichte in einem solchen Fall nur, bis zu einer abschließenden Entscheidung der Kommission, die Rechte der Einzelnen vor einer möglichen Verletzung dieses Verbots durch die staatlichen Stellen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 12. Februar 2008, CELF und Ministre de la Culture et de la Communication, C‑199/06, Slg. 2008, I‑469, Randnr. 38 und die dort angeführte Rechtsprechung).

40      Hinsichtlich der bestehenden Beihilfen ist die Kommission nach Art. 108 Abs. 1 AEUV zur fortlaufenden Überprüfung in Zusammenarbeit mit den Mitgliedstaaten befugt. Diese Überprüfung kann die Kommission veranlassen, dem betreffenden Mitgliedstaat die für die fortschreitende Entwicklung oder das Funktionieren des Gemeinsamen Marktes erforderlichen sachdienlichen Maßnahmen vorzuschlagen und gegebenenfalls über den Wegfall oder die Änderung einer Beihilfe zu entscheiden, die sie für mit dem Binnenmarkt unvereinbar hält.

41      Diese Beihilfen sind als rechtmäßig anzusehen, solange die Kommission nicht ihre Unvereinbarkeit mit dem Binnenmarkt festgestellt hat (Urteil vom 18. November 2010, NDSHT/Kommission, C‑322/09 P, Slg. 2010, I‑11911, Randnr. 52 und die dort angeführte Rechtsprechung). Unter solchen Umständen räumt Art. 108 Abs. 3 AEUV den nationalen Gerichten somit nicht die Befugnis ein, die Durchführung einer bestehenden Beihilfe zu untersagen.

42      Gemäß Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 bezeichnet der Ausdruck „bestehende Beihilfen“ unbeschadet der Art. 144 und 172 der Beitrittsakte Beihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags in dem entsprechenden Mitgliedstaat bestanden, also Beihilferegelungen und Einzelbeihilfen, die vor Inkrafttreten des Vertrags eingeführt worden sind und auch nach dessen Inkrafttreten noch anwendbar sind.

43      Nach den Informationen, die in den dem Gerichtshof vorliegenden Akten enthalten sind, und gemäß den Ausführungen sowohl der finnischen Regierung als auch der Kommission wurde die in § 122 Abs. 1 und 3 TVL vorgesehene Regelung eingeführt, bevor am 1. Januar 1994 das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum vom 2. Mai 1992 (ABl. 1994, L 1, S. 3) in Kraft trat, und war auch danach noch anwendbar. Die Republik Finnland ist der Europäischen Union am 1. Januar 1995 beigetreten.

44      Außerdem sind, wie die Kommission ausgeführt hat, die in den Art. 144 und 172 der Beitrittsakte bestimmten Umstände, unter denen der die Definition des Begriffs „bestehende Beihilfe“ betreffende Art. 1 Buchst. b Ziff. i der Verordnung Nr. 659/1999 nicht anwendbar wäre, in der vorliegenden Rechtssache nicht einschlägig.

45      Es ist darauf hinzuweisen, dass die Änderung der Durchführungsbestimmungen einer Beihilferegelung unter bestimmten Voraussetzungen dazu führen kann, dass diese Regelung als neue Beihilfe eingestuft wird.

46      Das vorlegende Gericht wird daher zu prüfen haben, ob nicht die Durchführungsbestimmungen der im Ausgangsfall in Rede stehenden Regelung geändert wurden.

47      Sollte sich zeigen, dass etwaige Änderungen eine Ausdehnung der Tragweite der Regelung bewirkt haben, könnte anzunehmen sein, dass eine neue Beihilfe vorliegt, was die Anwendbarkeit des Notifizierungsverfahrens nach Art. 108 Abs. 3 AEUV zur Folge hat.

48      Daher ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 108 Abs. 3 AEUV es nicht verbietet, dass ein Steuersystem wie das in § 122 Abs. 1 und 3 TVL vorgesehene, falls es als „staatliche Beihilfe“ zu qualifizieren sein sollte, aufgrund seiner Eigenschaft als „bestehende Beihilfe“ in dem Mitgliedstaat, der dieses Steuersystem eingeführt hat, weitergilt, unbeschadet der in Art. 108 Abs. 3 AEUV vorgesehenen Befugnis der Kommission.

Quelle: curia.europa.eu
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