BFH: Kindergeldrechtliche Ausschlussfrist bei Wanderarbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union
- Die Regelung des § 66 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes vom 23.06.2017 (EStG a.F.) ist europarechts- und verfassungskonform.
- Stellt ein Wanderarbeitnehmer, der die Anspruchsvoraussetzungen für einen Kindergeldanspruch im Inland erfüllt, seinen Antrag auf Kindergeld bei der inländischen Familienkasse erst nach Ablauf der in § 66 Abs. 3 EStG a.F. vorgesehenen sechsmonatigen Ausschlussfrist, kann die Ausschlussfrist auch durch einen nach dem Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung (Art. 81 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit) zu berücksichtigenden, im Ausland gestellten Antrag gewahrt werden.
- Eine Antragsgleichstellung erfolgt jedoch nicht, wenn der Antrag im Wohnmitgliedstaat zu einem Zeitpunkt gestellt wurde, in dem noch kein Auslandsbezug vorlag (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737). Liegt ein Auslandsbezug vor und teilt der Antragsteller den grenzüberschreitenden Sachverhalt weder den entsprechenden Behörden im Wohnmitgliedstaat noch im Tätigkeitsstaat mit, stellt allein der Umstand, dass der Wanderarbeitnehmer wiederkehrende Leistungen erhalten hat, keinen Antrag dar (EuGH-Urteile Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737; Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 ‑ C‑36/23, EU:C:2024:355).
EStG a.F. § 66 Abs. 3
EStG § 67
AEUV Art. 18, Art. 45, Art. 267 Abs. 3
GG Art. 3
VO (EG) 883/2004 Art. 4, Art. 68, Art. 76, Art. 81
BFH-Urteil vom 11.7.2024, III R 31/23 (veröffentlicht am 7.11.2024)
Vorinstanz: FG Nürnberg vom 4.5.2023, 8 K 467/21 = SIS 24 04 49
I. Die Beteiligten streiten um die Festsetzung von Differenzkindergeld für den Streitzeitraum August 2018 bis Oktober 2018.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist rumänischer Staatsangehöriger und Vater der Kinder (geboren am xx.xx.2004) ‑‑V‑‑, (geboren am xx.xx.2007) ‑‑F‑‑ und (geboren am xx.xx.2016) ‑‑I‑‑. Seine Ehefrau, die Mutter der Kinder, erhielt im Streitzeitraum je Kind rumänische Kindergeldleistungen in Höhe von monatlich 84 RON. Die Ehefrau und die Kinder lebten in Rumänien.
Der Kläger war vom 07.08.2018 bis zum 20.12.2018 in der Bundesrepublik Deutschland nichtselbständig beschäftigt.
Am 22.05.2019 stellte der Kläger bei der Beklagten und Revisionsbeklagten (Familienkasse) einen Antrag auf Kindergeld für alle drei Kinder. Mit Bescheid vom 13.10.2020 lehnte die Familienkasse die Kindergeldfestsetzung für den Zeitraum von August bis Oktober 2018 ab, weil die Festsetzung für einen längeren Zeitraum als die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen sei, gemäß § 66 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes i.d.F. des Steuerumgehungsbekämpfungsgesetzes ‑‑StUmgBG‑‑ vom 23.06.2017 (BGBl I 2017, 1682 ‑‑EStG a.F.‑‑) ausgeschlossen sei. Gegen den Ablehnungsbescheid legte der Kläger Einspruch ein und bestritt die Verfassungsmäßigkeit der angewandten Vorschrift.
Mit Einspruchsentscheidung vom 29.03.2021 wies die Familienkasse den Einspruch als unbegründet zurück. Zur Begründung wurde ausgeführt, der Bundesfinanzhof (BFH) habe entschieden, dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. das Festsetzungsverfahren betreffe und die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung begrenze (Urteil vom 19.02.2020 ‑ III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704). Da der Kindergeldantrag erst am 22.05.2019 bei der Familienkasse eingegangen sei, sei eine Kindergeldfestsetzung für den beantragten Zeitraum ausgeschlossen. Mit Urteil vom 09.09.2020 ‑ III R 37/19 (BFH/NV 2021, 449) habe der BFH zudem klargestellt, dass § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht verfassungswidrig sei.
Während des sich anschließenden Klageverfahrens hat die Familienkasse zwei Anfragen an den rumänischen Leistungsträger gestellt. Die rumänische Verbindungsstelle teilte mit, dass die Kindsmutter in Rumänien einer Erwerbstätigkeit nachgehe, die in Rumänien gestellten Anträge auf Familienleistungen für das Kind V im März 2010 und das Kind I im April 2016 erfolgt seien, und dass man keine Informationen über die grenzüberschreitende Situation der Familie erhalten habe.
Die Klage blieb erfolglos.
Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung materiellen Rechts, des Unionsrechts und des Verfassungsrechts. Die Entscheidung beinhalte eine Diskriminierung von Unionsbürgern und verstoße gegen den Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 des Grundgesetzes (GG), gegen das Diskriminierungsverbot sowie das Freizügigkeitsrecht nach Art. 18, Art. 21 und Art. 45 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV).
Soweit sich die Familienkasse auf das zwischenzeitlich ergangene Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737 berufe, sei dieser Entscheidung auch zu entnehmen, dass die nationalen Regelungen den Äquivalenzgrundsatz und den Effektivitätsgrundsatz zu beachten hätten.
Der Kläger beantragt,
- das Urteil des Finanzgerichts (FG) Nürnberg vom 04.05.2023 ‑ 8 K 467/21 und die Einspruchsentscheidung der Familienkasse vom 29.03.2021 aufzuheben und unter Abänderung des Bescheides vom 13.10.2020 an den Kläger Kindergeld für den Zeitraum August bis Oktober 2018 für das Kind V in Höhe von 194 € abzüglich rumänischer Familienleistung von 84 RON, für das Kind F in Höhe von 194 € abzüglich rumänischer Familienleistung von 84 RON sowie für das Kind I in Höhe von 200 € abzüglich rumänischer Familienleistung von 84 RON zu bezahlen,
- hilfsweise dem EuGH folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:
- Sind Art. 18, Art. 21 und Art. 45 AEUV dahingehend auszulegen, dass sie einer nationalen Regelung entgegenstehen, wonach jeder Anspruchsberechtigte nur für sechs Monate rückwirkend Familienausgleichsleistungen ausgezahlt erhält?
- Ist diese Frage jedenfalls dann zu bejahen, wenn dies in der Praxis bedeutet, dass ein inländischer Anspruchsberechtigter bei Geburt eines Kindes einen einmaligen und fortwirkenden Antrag auf Familienausgleichsleistungen stellen kann, während ein Wanderarbeitnehmer für jedes Beschäftigungsverhältnis erneute und rückwirkende Anträge stellen muss, um für seine Beschäftigungszeiten Familienausgleichsleistungen zu erhalten und damit mit jedem Antrag das Risiko des Verlustes von Antragszeiten und Leistungsansprüchen trägt (mittelbare Diskriminierung)?
- Ist, falls diese Fragen bejaht werden, diese Voraussetzung durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt, und zwar durch die Notwendigkeit, Sozialleistungsmissbrauch einzudämmen?
Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
II. 1. Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zutreffend einen Anspruch des Klägers auf Festsetzung von Differenzkindergeld für den Streitzeitraum verneint. Einer Vorlage an den EuGH bedarf es nicht.
a) Gemäß § 66 Abs. 3 EStG a.F. wird das Kindergeld nur für die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats gezahlt, in dem der Antrag (vgl. § 67 des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑) auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Vorschrift beschränkt die rückwirkende Festsetzung von Kindergeld, da sie dem Festsetzungsverfahren und nicht dem Erhebungsverfahren zuzuordnen ist (Senatsurteile vom 19.02.2020 ‑ III R 66/18, BFHE 268, 294, BStBl II 2020, 704, Rz 18 ff. und vom 19.02.2020 ‑ III R 70/18, BFHE 268, 301, BStBl II 2020, 707, Rz 15 f.).
aa) § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist am 01.01.2018 in Kraft getreten (Art. 11 Abs. 2 StUmgBG) und gemäß § 52 Abs. 49a Satz 7 EStG i.d.F. des Art. 7 Nr. 6 Buchst. c StUmgBG und Art. 9 Nr. 5 Buchst. a Doppelbuchst. bb des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch auf Anträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen.
bb) Die Regelung ist damit im Streitfall anwendbar, da der Antrag des Klägers nach den Feststellungen des FG erst am 22.05.2019 bei der Familienkasse eingegangen ist. Insoweit wahrt dieser Antrag die Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. für den Streitzeitraum (August 2018 bis Oktober 2018) nicht.
b) Ein die Frist nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. wahrender Antrag liegt auch nicht über das europäische Recht zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vor, welches ein umfassendes Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung vorsieht.
aa) In verfahrensrechtlicher Hinsicht sieht Art. 68 Abs. 3 Buchst. a der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) ‑‑VO Nr. 883/2004‑‑ i.V.m. Art. 60 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009, Nr. L 284, S. 1) ‑‑VO Nr. 987/2009‑‑ vor, dass der bei einem Träger eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats gestellte Kindergeldantrag von diesem an den Träger des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats weiterzuleiten ist (s.a. Art. 81 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 3 Satz 1 der VO Nr. 987/2009). Gemäß Art. 68 Abs. 3 Buchst. b, Art. 81 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 gilt der Tag der Einreichung des Antrags beim Träger des einen Mitgliedstaats als Tag der Einreichung beim zuständigen Träger des anderen Mitgliedstaats. Dies führt zum Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung (s. hierzu ausführlich Senatsurteile vom 09.12.2020 ‑ III R 73/18, BFHE 271, 508, BStBl II 2022, 178, Rz 16 und vom 14.07.2022 ‑ III R 28/21, BFHE 278, 78, BStBl II 2023, 32, Rz 18). Eine Antragsgleichstellung erfolgt hingegen nicht, wenn der entsprechende Antrag zu einem Zeitpunkt im Wohnmitgliedstaat gestellt wurde, in dem noch kein Auslandsbezug vorlag (EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737, Rz 31, 36) und der Antragsteller weder der zuständigen Behörde im Tätigkeitsstaat noch jener im Wohnstaat eine Mitteilung über den grenzüberschreitenden Sachverhalt macht. Nur bei Kenntnis des Auslandsbezugs können die mit dem Antrag befassten Behörden ihren Verpflichtungen aus Art. 76 und Art. 81 der VO Nr. 883/2004 nachkommen (EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737, Rz 35).
bb) Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) fehlt es im vorliegenden Fall an einem bis zum Ablauf der Sechsmonatsfrist gleichgestellten Antrag auf Familienleistungen bei einem anderen Träger.
(1) Soweit für V ein Antrag im Wohnmitgliedstaat im März 2010 und für F mutmaßlich bei der Geburt (im Jahr 2007) gestellt wurde, können diese Anträge schon deshalb nicht unter die Antragsgleichstellung fallen, weil die VO Nr. 883/2004 erst am 01.05.2010 in Kraft getreten ist (vgl. Senatsurteil vom 09.09.2020 ‑ III R 37/19, BFH/NV 2021, 449, Rz 19).
(2) Der für I außerhalb des Sechsmonatszeitraums nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. im April 2016 gestellte Antrag kann nach der Rechtsprechung des EuGH (Urteile Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737 und Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 ‑ C‑36/23, EU:C:2024:355) nicht als ein gleichgestellter Antrag im Sinne von Art. 81 der VO Nr. 883/2004 gewertet werden. Zu diesem Zeitpunkt wies die familiäre Situation des Klägers keinen Auslandsbezug auf. Zudem haben der Kläger und seine Ehefrau im Heimatland nichts in administrativer Hinsicht unternommen, um der dort zuständigen Behörde den Auslandsbezug mitzuteilen, so dass der Umstand, dass die Ehefrau des Klägers wiederkehrende Familienleistungen erhalten hat, keinen Antrag im Sinne des Art. 81 der VO Nr. 883/2004 darstellt.
c) § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67 EStG, der die Festsetzung von Differenzkindergeld im Streitzeitraum ausschließt, verstößt auch nicht gegen EU-Recht.
Der Senat erachtet die Unionsrechtslage angesichts der vorliegenden EuGH-Rechtsprechung (vgl. u.a. Urteile Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737; Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 ‑ C‑36/23, EU:C:2024:355 und Alonso-Pérez vom 23.11.1995 ‑ C‑394/93, EU:C:1995:400) für eindeutig, so dass keine Vorlagepflicht an den EuGH gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht (vgl. EuGH-Urteil CILFIT vom 06.10.1982 ‑ 283/81, EU:C:1982:335).
aa) Das Unionsrecht lässt die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten zur Ausgestaltung ihrer Systeme der sozialen Sicherheit unberührt (EuGH-Urteil Rechtsanwaltskammer Wien vom 15.09.2022 ‑ C‑58/21, EU:C:2022:691,Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht ‑‑ZESAR‑‑ 2023, 81, Rz 61). Insoweit schafft auch die VO Nr. 883/2004 kein gemeinsames System der sozialen Sicherheit, sondern lässt die unterschiedlichen nationalen Systeme bestehen. Es ist daher Sache des Rechts des jeweiligen Mitgliedstaats, die Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen der sozialen Sicherheit, ihre Höhe, die Dauer ihrer Gewährung sowie die Fristen zur Beantragung dieser Leistungen zu bestimmen (EuGH-Urteile Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 ‑ C‑36/23, EU:C:2024:355, Rz 55; Sozialministeriumservice vom 11.04.2024 ‑ C‑116/23, EU:C:2024:292, Rz 61; Xhymshiti vom 18.11.2010 ‑ C‑247/09, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung ‑‑HFR‑‑ 2011, 115, Rz 43; s.a. Erwägungsgrund 4 der VO Nr. 883/2004). Der EuGH weist ausdrücklich darauf hin, dass auch bei einer Antragsgleichstellung gleichwohl "alle anderen formellen und materiellen Voraussetzungen, die in den Rechtsvorschriften des vorrangig zuständigen Mitgliedstaats bestimmt sind, zu erfüllen" sind, "da zwischen der Einreichung eines Antrags auf Familienleistungen und dem Anspruch auf Leistungen zu unterscheiden ist" (EuGH-Urteil Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 ‑ C‑36/23, EU:C:2024:355, Rz 54, m.w.N.).
Die nationalen Regelungen, wozu auch die hier vorliegende materiell-rechtliche Ausschlussfrist nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. gehört, müssen lediglich das Unionsrecht beachten und dürfen nicht bewirken, dass Personen, auf die nach der VO Nr. 883/2004 eine nationale Regelung anwendbar ist, vom Anwendungsbereich dieser Regelung ausgeschlossen sind (EuGH-Urteil Chief Appeals Office u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737, Rz 39, m.w.N.).
bb) Nach der Rechtsprechung des EuGH führen hingegen angemessene Ausschlussfristen nicht dazu, die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich zu machen oder übermäßig zu erschweren (EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737, Rz 45, m.w.N.). Der EuGH hat bereits entschieden, dass eine nationale Bestimmung, welche die Rückwirkung von Anträgen und Familienbeihilfen auf sechs Monate beschränkt, die Ausübung der den Wanderarbeitnehmern durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht unmöglich macht (EuGH-Urteil Alonso-Pérez vom 23.11.1995 ‑ C‑394/93, EU:C:1995:400, Rz 30, 32, zu § 9 Abs. 2 des Bundeskindergeldgesetzes i.d.F. vom 30.01.1990).
(1) Auch die in § 66 Abs. 3 EStG a.F. geregelte materielle Ausschlussfrist schließt einen Antragsteller aus einem anderen Mitgliedstaat nicht von der Gewährung von Kindergeld aus, sondern beschränkt lediglich den Anspruch auf rückwirkende Festsetzung auf die letzten sechs Monate vor Beginn des Monats, in dem der Antrag auf Kindergeld eingegangen ist. Diese Frist gilt für alle Kindergeldberechtigten ‑‑unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit‑‑ gleichermaßen.
(2) Hierbei handelt es sich nicht um eine unangemessene Frist, da sie ‑‑auch unter Berücksichtigung grenzüberschreitender Sachverhalte innerhalb der EU‑‑ die Inanspruchnahme der Familienleistungen für Wanderarbeitnehmer nicht unverhältnismäßig erschwert.
Das ergibt sich insbesondere aus Art. 81 der VO Nr. 883/2004. Wie dargestellt können Anträge über Art. 81 der VO Nr. 883/2004, die gemäß den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats innerhalb einer bestimmten Frist bei einer Behörde einzureichen sind, innerhalb der gleichen Frist auch bei einer entsprechenden Behörde eines anderen Mitgliedstaats eingereicht werden. Die Zulässigkeit eines bei einer entsprechenden Stelle im ausländischen Mitgliedstaat gestellten Antrags bleibt auch dann gegeben, wenn der Antrag von dieser Stelle erst verspätet an den zuständigen Träger übermittelt wird (vgl. EuGH-Urteil Deghillage vom 11.03.1986 ‑ C‑28/85, EU:C:1986:113; vgl. auch Art. 2 Abs. 3 der VO Nr. 987/2009 und Art. 81 Satz 3 der VO Nr. 883/2004). Die Vorschrift befreit die betreffenden Personen damit von der Verpflichtung, fristgerechte Anträge unmittelbar bei der Stelle einzureichen, für die sie bestimmt sind. Art. 81 der VO Nr. 883/2004 erleichtert damit die Freizügigkeit von Wanderarbeitnehmern, "indem er ihr Vorgehen angesichts der Komplexität der Verwaltungsverfahren in den verschiedenen Mitgliedstaaten vereinfacht, und verhindert, dass die Betroffenen aus rein formalen Gründen ihre Ansprüche verlieren können" (EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737, Rz 26). Damit können sich Wanderarbeitnehmer und die ihnen Gleichgestellten, ohne einen Rechtsverlust aufgrund langer Postwege, Unkenntnis über den Verwaltungsaufbau im ausländischen Staat und ähnliche rechtliche und praktische Schwierigkeiten befürchten zu müssen, direkt an die entsprechende Stelle ihres Wohnmitgliedstaats wenden (Senatsurteil vom 14.07.2022 ‑ III R 28/21, BFHE 278, 78, BStBl II 2023, 32, Rz 19, m.w.N.). Der in Art. 81 der VO Nr. 883/2004 geregelten Antragsgleichstellung kann aber nicht entnommen werden, dass sie sich außer auf Verfahrensfragen auch auf die im Einzelfall anzuwendenden materiell-rechtlichen Vorschriften bezieht (EuGH-Urteil Camera vom 10.06.1982 ‑ C‑92/81, EU:1982:219, Rz 8). Daher bleibt es bei der Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F., die der Wanderarbeitnehmer aber durch eine entsprechende Antragstellung oder Mitteilung bei der für Familienleistungen zuständigen Behörde seines Heimatstaats leicht wahren kann.
cc) § 66 Abs. 3 EStG a.F. verstößt auch nicht gegen das europarechtliche Verbot der Diskriminierung.
Jeder Unionsbürger kann sich in allen Situationen, die in den sachlichen Anwendungsbereich des Unionsrechts fallen, auf das Verbot der Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit in Art. 45 Abs. 2 AEUV berufen, das in Art. 4 der VO Nr. 883/2004 konkretisiert wird (EuGH-Urteil Kommission/Österreich vom 16.06.2022 ‑ C‑328/20, EU:C:2022:468, Rz 98). Nach Art. 4 der VO Nr. 883/2004 haben, sofern in der VO Nr. 883/2004 nichts anderes bestimmt ist, Personen, für die diese Verordnung gilt, die gleichen Rechte und Pflichten aufgrund der Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats wie die Staatsangehörigen dieses Staats.
(1) Eine offene unmittelbare Diskriminierung liegt schon deshalb nicht vor, weil die Regelung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. nicht an die Staatsangehörigkeit anknüpft. Die Norm gilt für alle Kindergeldberechtigten, also solche mit Wohnsitz im Inland oder auch in anderen EU-Mitgliedstaaten, und zwar unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit.
(2) Es liegt auch keine verbotene mittelbare Diskriminierung vor.
(a) Der Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 4 der VO Nr. 883/2004 als lex specialis zu Art. 18, Art. 45 AEUV) verbietet nicht nur offenkundige Diskriminierungen aufgrund der Staatsangehörigkeit, sondern auch alle verschleierten Formen der Diskriminierung, die mit Hilfe der Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu demselben Ergebnis führen (vgl. EuGH-Urteile Pinna vom 15.01.1986 ‑ C‑41/84, EU:C:1986:1, Slg. 1986, 1, Rz 23; Thermalhotel Fontana vom 15.06.2023 ‑ C‑411/22, EU:C:2023:490, ZESAR 2023, 443, Rz 37). Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind daher Voraussetzungen des nationalen Rechts als mittelbar diskriminierend anzusehen, die zwar unabhängig von der Staatsangehörigkeit gelten, aber im Wesentlichen oder ganz überwiegend Wanderarbeitnehmer betreffen, sowie unterschiedslos geltende Voraussetzungen, die von inländischen Arbeitnehmern leichter zu erfüllen sind als von Wanderarbeitnehmern, oder auch solche, bei denen die Gefahr besteht, dass sie sich besonders zum Nachteil von Wanderarbeitnehmern auswirken (EuGH-Urteile Klöppel vom 21.02.2008 ‑ C‑507/06, EU:C:2008:110, ZESAR 2008, 518, Rz 18; Kommission/Vereinigtes Königreich vom 14.06.2016 ‑ C‑308/14, EU:C:2016:436, ZESAR 2017, 37, Rz 77), sofern sie nicht objektiv gerechtfertigt sind und im angemessenen Verhältnis zum verfolgten Ziel stehen (EuGH-Urteile Krah vom 10.10.2019 ‑ C‑703/17, EU:C:2019:850, Rz 24; Thermalhotel Fontana vom 15.06.2023 ‑ C‑411/22, EU:C:2023:490, ZESAR 2023, 443, Rz 37). Dabei ist es Sache des nationalen Gerichts, auf der Grundlage aller verfügbaren Informationen zu beurteilen, ob die Voraussetzungen einer solchen Rechtfertigung gegeben sind (vgl. EuGH-Urteile Rechtsanwaltskammer Wien vom 15.09.2022 ‑ C‑58/21, EU:C:2022:691, ZESAR 2023, 81, Rz 75; Sozialministeriumservice vom 11.04.2024 ‑ C‑116/23, EU:C:2024:292, Rz 64).
(b) Insoweit ist dem Kläger zwar zuzugestehen, dass das Antragserfordernis des § 67 Satz 1 EStG, an das die Frist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. anknüpft, die Gruppe der Saisonarbeitnehmer unter den Wanderarbeitnehmern stärker betrifft als Kindergeldberechtigte, die ihren Wohnsitz dauerhaft im Inland haben. Bei Saisonarbeitnehmern ohne dauerhaften Wohnsitz im Inland entfällt der Kindergeldanspruch mit Beendigung ihrer inländischen Tätigkeit, so dass eine wiederholte (fristgebundene) Antragstellung erforderlich ist, wenn der Berechtigte die Voraussetzungen für die Gewährung des Kindergeldes zu einem späteren Zeitpunkt (Rückkehr ins Inland in der nächsten Saison) erneut erfüllt. Dieser den Wanderarbeitnehmer treffende Nachteil ist hingegen geeignet, die Verwirklichung eines legitimen Ziels zu gewährleisten, und geht nicht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.
(aa) Das Kindergeld dient dazu, einen Einkommensbetrag in Höhe des Kinderexistenzminimums von der Besteuerung freizustellen. Soweit es dazu nicht erforderlich ist, dient es der Förderung der Familie (§ 31 Satz 1 und 2 EStG). Der Gesetzgeber hat in den §§ 62 ff. EStG geregelt, unter welchen Voraussetzungen ein Kindergeldanspruch besteht und welcher Person dieser Anspruch zusteht. In Fällen mit grenzüberschreitenden Bezügen ist bei der Prüfung des Anspruchs auch das in der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Koordinierungsverfahren durchzuführen. Die dabei anzuwendenden Antikumulierungsvorschriften sollen dem Empfänger der von mehreren Mitgliedstaaten gezahlten Leistungen einen Gesamtbetrag an Leistungen garantieren, der gleich dem Betrag der günstigsten Leistung ist, die ihm nach dem Recht nur eines dieser Staaten zusteht (EuGH-Urteil Familienkasse Sachsen vom 25.04.2024 ‑ C‑36/23, EU:C:2024:355, Rz 65, m.w.N.). Sie sollen aber zugleich auch sachlich nicht zu rechtfertigende Ergebnisse beim Zusammentreffen von Leistungen und damit Doppelzahlungen in den verschiedenen Mitgliedstaaten verhindern (vgl. Erwägungsgründe 12 und 35 zur VO Nr. 883/2004).
(bb) Die notwendige Antragstellung innerhalb der im nationalen Recht normierten Sechsmonatsfrist geht auch nicht über das hinaus, was zur Erreichung des Ziels erforderlich ist.
Der gemäß § 67 Satz 1 EStG zu stellende Kindergeldantrag leitet das Verwaltungsverfahren ein, in dessen Verlauf die Familienkassen unter Mitwirkung des Antragstellers feststellen, ob, für welchen Zeitraum und in welcher Höhe ein Anspruch auf Kindergeld (Differenzkindergeld) besteht. Das Antragserfordernis dient dazu, den Familienkassen diese Prüfung zu ermöglichen und gegebenenfalls das maßgebende Koordinierungsverfahren (Art. 67, Art. 68 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 der VO Nr. 987/2009) zu eröffnen.
Dem Zweck des Kindergeldes entsprechend ist der Zugang zum Verfahren niederschwellig ausgestaltet (vgl. Senatsurteile vom 12.10.2023 ‑ III R 38/21, BStBl II 2024, 517, Rz 34 und vom 30.01.2024 ‑ III R 15/23, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 38). So genügt es, wenn sich die Geltendmachung eines Anspruchs auf Kindergeld aus einem vom Antragsteller herrührenden Schriftstück, zum Beispiel auch einer einfachen E‑Mail, ergibt; dabei muss die Identität des Antragstellers feststellbar sein und erkennbar sein, dass und für welche Kinder er Kindergeld begehrt (Senatsurteile vom 12.10.2023 ‑ III R 38/21, BStBl II 2024, 517, Rz 35, 37 und vom 30.01.2024 ‑ III R 15/23, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, Rz 24, 27). Für Fälle mit grenzüberschreitendem Sachverhalt erfährt die nach nationalem Recht erforderliche Antragstellung gemäß § 67 Satz 1 EStG innerhalb der Sechsmonatsfrist des § 66 Abs. 3 EStG a.F. über das oben dargestellte "Prinzip der europaweiten Antragsgleichstellung" und Art. 81 der VO Nr. 883/2004 eine Erleichterung für Wanderarbeitnehmer, die auch die erforderliche Wiederholung des Antrags bei Aufnahme einer Saisonarbeit in einem anderen EU-Mitgliedstaat nicht als unverhältnismäßig erscheinen lässt. Es reicht nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 aus, wenn der Saisonarbeitnehmer den grenzüberschreitenden Sachverhalt der entsprechenden Behörde im Wohnmitgliedstaat innerhalb der Frist anzeigt (vgl. Senatsurteil vom 14.07.2022 ‑ III R 28/21, BFHE 278, 78, BStBl II 2023, 32, Rz 23). Auch die Sprache begründet in diesem Fall kein Hindernis. Darüber hinaus sind auch die inländischen Antragsformulare in allen EU-Sprachen aufgelegt und können so auch im Tätigkeitsstaat verwendet werden. Nach Art. 76 Abs. 7 der VO Nr. 883/2004 dürfen die nationalen Behörden Anträge nicht zurückweisen, wenn sie in einer Amtssprache eines anderen Mitgliedstaats abgefasst sind. Aus den nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen und im Revisionsverfahren daher bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) ergeben sich auch keine Hinweise darauf, dass die Familienkasse Anträge von Wanderarbeitnehmern nicht diesen Vorgaben entsprechend bearbeitet.
Schließlich hindern auch etwaige durch den Auslandsbezug (Veranlagung nach § 1 Abs. 3 EStG) bedingte zeitliche Verzögerungen in der Beibringung von Nachweisen (zum Beispiel die tatsächliche einkommensteuerrechtliche Behandlung des Antragstellers nach § 1 Abs. 3 EStG durch das Finanzamt) die zeitnahe Antragstellung nicht. Die Beibringung von Nachweisen oder Unterlagen betrifft nur das laufende Verfahren nach Antragstellung und löst die Sechsmonatsfrist nicht aus.
Darüber hinaus sind die Mitwirkungspflichten des Antragstellers in Art. 76 Abs. 4 Unterabs. 3 der VO Nr. 883/2004 selbst angelegt (vgl. auch Art. 3 Abs. 2, Art. 16 Abs. 1 der VO Nr. 987/2009). Nach dieser Vorschrift sind die Betroffenen im Anwendungsbereich der Verordnung verpflichtet, die Träger des zuständigen Mitgliedstaats und des Wohnmitgliedstaats so bald wie möglich über jede Änderung der persönlichen oder familiären Situation zu unterrichten, die sich auf ihre Leistungsansprüche nach dieser Verordnung auswirkt. Dass insoweit bei einem grenzüberschreitenden Sachverhalt die Mitteilungspflichten bei Saisonarbeitnehmern aus dem EU-Ausland umfangreicher sein können als bei einem reinen Inlandsfall, liegt aufgrund der permanenten Änderungen der Verhältnisse in der Natur der Sache, führt aber nicht zu einer unangemessenen Benachteiligung. Der Gleichbehandlungsgrundsatz schließt nicht aus, dass ein Wanderarbeitnehmer unter Umständen Nachteile hinnehmen muss, die sich aus der unterschiedlichen Ausgestaltung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten ergeben (EuGH-Urteil Finanzamt Österreich (Familienleistungen für Entwicklungshelfer) vom 25.11.2021 ‑ C‑372/20, EU:C:2021:962, ZESAR 2022, 181, Rz 80; Albrecht Otting in Hauck/Noftz, EU-Sozialrecht, Art. 4 EGV 883/2004, Rz 4, m.w.N.).
Vor dem Hintergrund des Ziels einer Vermeidung von Doppelzahlungen und der Feststellung, ob und in welcher Höhe ein Anspruch auf (Differenz‑)Kindergeld besteht, ist der "Mehraufwand" der Wandersaisonarbeitnehmer gerechtfertigt und geht unter Berücksichtigung der bestehenden Erleichterungen bei der grenzüberschreitenden Antragstellung nicht über das hinaus, was zur Erreichung dieses Ziels erforderlich ist.
dd) Die Regelungen des § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67 Satz 1 EStG verstoßen nicht gegen den in Art. 45 Abs. 2 AEUV verankerten und in Art. 7 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 492/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 05.04.2011 über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer innerhalb der Union konkretisierten Grundsatz der Gleichbehandlung, wonach ein Arbeitnehmer, der Staatsangehöriger eines Mitgliedstaats ist, im Hoheitsgebiet der anderen Mitgliedstaaten die gleichen sozialen und steuerlichen Vergünstigungen genießt wie die inländischen Arbeitnehmer. Insoweit gelten die Ausführungen unter II.1.c cc entsprechend.
ee) § 66 Abs. 3 EStG a.F. ist ‑‑entgegen der Auffassung des Klägers‑‑ nicht an Art. 18 AEUV zu messen. Diese Vorschrift kann in eigenständiger Weise nur auf unionsrechtlich geregelte Sachverhalte angewendet werden, für die der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union keine besonderen Diskriminierungsverbote vorsieht. Der Grundsatz der Nichtdiskriminierung wurde für den Bereich der sozialen Sicherheit jedoch unter anderem durch Art. 45 AEUV und durch Art. 4 der VO Nr. 883/2004 umgesetzt (EuGH-Urteil Sozialministeriumservice vom 11.04.2024 ‑ C‑116/23, EU:C:2024:292, Rz 47 f.).
ff) Mit der Anwendung des Art. 81 der VO Nr. 883/2004 im Rahmen der nationalen Regelung des § 66 Abs. 3 EStG a.F. wird der vom Senat festgestellten Unionsrechtslage auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht vollständig Rechnung getragen. Insbesondere werden sowohl der Effektivitätsgrundsatz als auch das Äquivalenzprinzip gewahrt.
Mangels einschlägiger Unionsregeln ist es nach dem Grundsatz der Verfahrensautonomie Sache der innerstaatlichen Rechtsordnung jedes Mitgliedstaats, die verfahrensrechtlichen Modalitäten festzulegen, vorausgesetzt allerdings, dass diese bei unter das Unionsrecht fallenden Sachverhalten nicht ungünstiger sind als diejenigen, die gleichartige Sachverhalte regeln, die dem innerstaatlichen Recht unterliegen (Äquivalenzgrundsatz), und dass sie die Ausübung der durch das Unionsrecht verliehenen Rechte nicht praktisch unmöglich machen oder übermäßig erschweren ‑‑Effektivitätsgrundsatz‑‑ (EuGH-Urteile Österreichische Post vom 04.05.2023 ‑ C‑300/21, EU:C:2023:370, Der Betrieb 2023, 1280, Rz 53; Pasquini vom 19.06.2003 ‑ C‑34/02, EU:C:2003:366; vgl. auch Art. 76 Abs. 5 Satz 2 der VO Nr. 883/2004).
Eine Verletzung dieser Grundsätze kann der Senat nicht erkennen (vgl. EuGH-Urteil Chief Appeals Officer u.a. vom 29.09.2022 ‑ C‑3/21, EU:C:2022:737, Rz 45 zum Effektivitätsgrundsatz). Insoweit wird auf die unter II.1.c bb dargelegten Ausführungen verwiesen.
d) § 66 Abs. 3 EStG a.F. i.V.m. § 67 EStG ist auch nicht verfassungswidrig.
aa) Soweit das Kindergeld dem Schutz des Kinderexistenzminimums (Art. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 GG) dient (§ 31 Satz 1 EStG), ist zunächst darauf hinzuweisen, dass das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) schon zu der früher geltenden, durch das Jahressteuergesetz 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1995, 1250) eingeführten Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG entschieden hat, dass dieser Schutz vom Gesetzgeber zulässigerweise primär über die Freibetragsregelungen des § 32 Abs. 6 EStG gewährleistet wird (Beschluss vom 06.11.2003 ‑ 2 BvR 1240/02, HFR 2004, 260, unter III.1.b). Durch die Rechtsprechung des Senats (Urteil vom 26.05.2021 ‑ III R 50/19, BFHE 273, 462, BStBl II 2022, 58) ist zudem sichergestellt, dass bei der Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG a.F. (ab 18.07.2019 gesetzlich geregelt in § 31 Satz 5 EStG) der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate unberücksichtigt bleibt beziehungsweise nur in Höhe von 0 € angesetzt wird, in denen durch Bescheid der Familienkasse ein Anspruch auf Kindergeld nach § 66 Abs. 3 EStG a.F. ausgeschlossen ist. Soweit das Kindergeld der Förderung der Familien dient (§ 31 Satz 2 EStG), verstößt die Ausschlussfrist nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, vielmehr liegt die Einführung einer Ausschlussfrist innerhalb des Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers (BVerfG-Beschluss vom 06.11.2003 ‑ 2 BvR 1240/02, HFR 2004, 260, unter III.2.; Senatsbeschluss vom 22.09.2022 ‑ III R 21/21, BFHE 278, 201, BStBl II 2023, 249, Rz 16 f., m.w.N.; Senatsurteil vom 09.09.2020 ‑ III R 37/19, BFH/NV 2021, 449, Rz 12 ff.).
bb) Soweit der Kläger darauf verweist, dass inländische Eltern im Vergleich zu Personen, die von ihrem Recht auf Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch machen und als Saisonarbeiter in einem anderen Mitgliedstaat tätig sind, unter Verstoß gegen Art. 3 GG ungleich behandelt würden, da Erstere im Regelfall nur einen Kindergeldantrag bei der Geburt des Kindes stellen müssten, während Letztere gegebenenfalls mehrere Anträge pro Jahr einzureichen hätten, übersieht er, dass die von ihm bezeichneten Vergleichsgruppen einen wesentlichen Unterschied aufweisen und daher nicht vergleichbar sind. Dieser Unterschied liegt in der (gegebenenfalls wiederholten) Änderung der persönlichen Verhältnisse, die den Kindergeldanspruch beeinflussen.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.
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