BFH: Abzweigung des Kindergelds, Erstattung von Kosten im Vorverfahren
Soweit der Einspruch des Kindes gegen die Ablehnung der beantragten Abzweigung des Kindergelds an sich selbst erfolgreich ist, ist die Regelung über die Erstattung von Kosten im Vorverfahren gemäß § 77 EStG analog anwendbar.
BFH-Urteil vom 26.6.2014 III R 39/12 (veröffentlicht am 22.10.2014)
EStG § 74 Abs. 1, § 77
SGB X § 63
Vorinstanz: FG Münster vom 18.7.2012 12 K 3884/11 Kg (EFG 2012, 1945 = SIS 12 25 84)
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) begehrt die Erstattung von Kosten im Vorverfahren (§ 77 des Einkommensteuergesetzes - EStG -). Sie hatte zunächst erfolglos die Abzweigung des an ihren Vater für sie gezahlten Kindergelds beantragt. Hiergegen legte die Klägerin, vertreten durch ihren Prozessbevollmächtigten, Einspruch ein. Der Einspruch war erfolgreich. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gab dem Abzweigungsantrag mit Abhilfebescheid vom ...8.2011 in vollem Umfang statt. Gleichzeitig lehnte sie die Erstattung der im Einspruchsverfahren entstandenen Kosten ab. Der Einspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom ...10.2011).
Das Finanzgericht (FG) gab der hiergegen erhobenen Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2012, 1945 veröffentlichten Urteil vom 18.7.2012 12 K 3884/11 Kg statt. Es erachtete § 77 EStG über den Wortlaut der Vorschrift hinaus auch beim Einspruch in Abzweigungsfällen für anwendbar. Zur Begründung führte es aus, dass vor der Neuregelung des Kindergeldrechts durch das Jahressteuergesetz (JStG) 1996 vom 11.10.1995 (BGBl I 1995, 1250, BStBl I 1995, 438) die Vorschrift des § 63 des Zehnten Buchs Sozialgesetzbuch (SGB X) einen solchen Anspruch zugelassen habe und nach der Gesetzesbegründung zu § 77 EStG (BTDrucks 13/1558, S. 162) insofern keine Änderung zu Lasten der Berechtigten beabsichtigt gewesen sei. In der Sache bestünden keine Gründe, einen solchen Anspruch zu verweigern. Auch der Ausnahmecharakter des § 77 EStG stehe einer erweiternden Auslegung nicht entgegen, da das Kindergeldrecht innerhalb des Einkommensteuerrechts eine Sonderstellung einnehme. Das FG erachtete ferner die Zuziehung eines Bevollmächtigten für notwendig.
Die Familienkasse macht mit ihrer Revision geltend, die Auslegung des § 77 EStG durch das FG sei vom Wortlaut nicht mehr gedeckt; eine Regelungslücke liege nicht vor.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG Münster vom 18.7.2012 12 K 3884/11 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt sinngemäß, die Revision zurückzuweisen.
Der Senat entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 i.V.m. § 121 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
II. Die Familienkasse ... der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18.4.2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff.) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Familienkasse ... eingetreten (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22.8.2007 X R 2/04, BFHE 218, 533, BStBl II 2008, 109, unter II.1.).
III. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat - jedenfalls im Ergebnis - zu Recht entschieden, dass die Familienkasse der Klägerin deren Kosten (notwendige Aufwendungen, Gebühren und Auslagen des Prozessbevollmächtigten) für den erfolgreichen Einspruch gegen die Ablehnung der Abzweigung zu erstatten hat (§ 77 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2, Abs. 3 Satz 2 EStG analog).
1. Nach § 77 Abs. 1 Satz 1 EStG sind Kosten im Vorverfahren zu erstatten, soweit der Einspruch gegen die Kindergeldfestsetzung erfolgreich ist. Die Abzweigung nach § 74 Abs. 1 EStG gehört zwar nicht zum Festsetzungs-, sondern zum Auszahlungsverfahren, das dem Erhebungsverfahren entspricht (Senatsurteil vom 26.8.2010 III R 21/08, BFHE 231, 520, BStBl II 2013, 583). § 77 EStG ist aber in Fällen vorliegender Art analog anzuwenden.
Die analoge Anwendung einer Rechtsnorm setzt eine Gesetzeslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit voraus. Eine solche Lücke liegt vor, wenn eine Regelung gemessen an ihrem Zweck unvollständig, d.h. ergänzungsbedürftig ist und wenn ihre Ergänzung nicht einer vom Gesetzgeber beabsichtigten Beschränkung auf bestimmte Tatbestände widerspricht (BFH-Urteil vom 12.12.2002 III R 33/01, BFHE 201, 379, BStBl II 2003, 322, m.w.N.). Diese Voraussetzungen sind im Streitfall gegeben (so im Ergebnis auch die wohl überwiegende Auffassung im Fachschrifttum, vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 77 EStG Rz 2; Helmke in Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 77 Rz 5; Greite in Korn, § 77 EStG Rz 4; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 33. Aufl., § 77 Rz 1; Claßen in Lademann, EStG, § 77 EStG Rz 2; Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 77 Rz 4, soweit der Kindergeldberechtigte Einspruchsführer ist; dagegen Dürr in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 77 Rz 4; Seewald/Felix, Kindergeldrecht, EStG § 77 Rz 2; so wohl auch Felix, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 77 Rz B 3; nur den Meinungsstreit darstellend Blümich/ Treiber, § 77 EStG Rz 4; Reuß in Bordewin/Brandt, § 77 EStG Rz 5 ff.).
a) Eine Gesetzeslücke liegt vor.
Bis zum 31.12.1995 galt hinsichtlich der Kostenerstattung für Widerspruchsverfahren gegen Entscheidungen der Kindergeldkasse § 63 SGB X. § 63 Abs. 1 Satz 1 SGB X bestimmt, dass - soweit der Widerspruch erfolgreich ist - der Rechtsträger, dessen Behörde den angefochtenen Verwaltungsakt erlassen hat, demjenigen, der Widerspruch erhoben hat, die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung notwendigen Auslagen zu erstatten hat. In § 63 Abs. 2 SGB X heißt es, dass die Gebühren und Auslagen eines Rechtsanwalts oder eines sonstigen Bevollmächtigten im Vorverfahren erstattungsfähig sind, wenn die Zuziehung eines Bevollmächtigten notwendig war. Der Anwendungsbereich dieser Vorschrift ist zwar auf das Widerspruchsverfahren (vgl. §§ 83 ff. des Sozialgerichtsgesetzes) beschränkt, nicht aber auf bestimmte Verfahrensgegenstände. Er erfasste daher auch Rechtsbehelfe im Zusammenhang mit der Abzweigung des Kindergelds nach § 48 Abs. 1 des Ersten Buchs Sozialgesetzbuch, einer dem § 74 Abs. 1 EStG entsprechenden Regelung.
Mit der Neuregelung der einkommensteuerrechtlichen Kindergeldvorschriften durch das JStG 1996 wurde § 77 EStG in das EStG aufgenommen. Ausweislich der Gesetzesmaterialien zu § 77 EStG war beabsichtigt, eine dem § 63 SGB X entsprechende Vorschrift zu schaffen (BTDrucks 13/1558, S. 162). Gleichwohl regelt das Gesetz die Erstattungspflicht nicht allgemein für Einspruchsverfahren in Kindergeldangelegenheiten, sondern setzt einen Einspruch gegen eine Kindergeldfestsetzung voraus. Nicht gesetzlich geregelt ist damit, ob auch bei einem erfolgreichen Einspruch des Kindes gegen eine Abzweigungsentscheidung nach § 74 Abs. 1 EStG Kosten nach § 77 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EStG zu erstatten sind.
b) Das Fehlen einer solchen Regelung für Fälle vorliegender Art stellt eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes dar, die zu schließen ist, indem das abzweigungsberechtigte Kind eine Erstattung seiner Kosten für das Einspruchsverfahren nach § 77 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 EStG analog beanspruchen kann.
Denn der Gesetzgeber wollte eine Schlechterstellung gegenüber dem bisherigen Recht vermeiden (so ausdrücklich BTDrucks 13/1558, S. 162). Die (eindeutig) erkennbare Absicht des Gesetzgebers bestand daher darin, die Erstattung von Kosten für das außergerichtliche Rechtsbehelfsverfahren in Kindergeldangelegenheiten an die bis zum 31.12.1995 geltende Rechtslage anzugleichen.
2. Einer analogen Anwendung des § 77 EStG stehen auch nicht die Senatsbeschlüsse vom 9.12.2010 III B 115/09 (BFH/NV 2011, 434) und vom 25.8.2009 III B 245/08 (BFH/NV 2009, 1989) entgegen. Beiden Entscheidungen lagen Fälle zugrunde, in denen es - anders als im Streitfall - an einem erfolgreichen Einspruch fehlte.
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