BVerfG: Änderungen von Steuergesetzen wegen Mängeln im Gesetzgebungsverfahren verfassungswidrig
Bundesverfassungsgericht, Pressemitteilung Nr. 12/2019 vom 14. Februar 2019
Beschluss vom 11. Dezember 2018, Beschluss vom 15. Januar 2019
2 BvL 4/11, 2 BvL 4/13, 2 BvL 5/11
2 BvL 1/09
Im Jahre 2004 vorgenommene Änderungen des Biersteuergesetzes und des Einkommensteuergesetzes sowie 1999 vorgenommene Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes sind verfassungswidrig. Grund sind in beiden Fällen den Vermittlungsausschuss betreffende Mängel im Gesetzgebungsverfahren. Dies hat der Zweite Senat mit heute veröffentlichten Beschlüssen entschieden. Zur Begründung hat er angeführt, dass der Vermittlungsausschuss, auf dessen Vorschlag die betreffenden Änderungen vorgenommen wurden, seine ihm durch das Grundgesetz eingeräumten Kompetenzen überschritten hat. Der Vermittlungsausschuss darf eine Änderung, Ergänzung oder Streichung der vom Bundestag beschlossenen Vorschriften nur vorschlagen, wenn und soweit dieser Einigungsvorschlag im Rahmen des ihnen zugrundeliegenden Gesetzgebungsverfahrens verbleibt. Wird der Anrufungsauftrag auf einzelne Vorschriften begrenzt, muss der Vermittlungsausschuss zudem die übrigen Regelungen des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes als endgültig hinnehmen. In dem die Vorlagen 2 BvL 4/11, 2 BvL 5/11 und 2 BvL 4/13 betreffenden Gesetzgebungsverfahren konnte das sogenannte Koch/Steinbrück-Papier aufgrund der Art seiner Einführung und seiner Behandlung im parlamentarischen Verfahrensgang keine Grundlage für die vom Vermittlungsausschuss vorgeschlagenen Änderungen des Biersteuergesetzes und des Einkommensteuergesetzes sein. Bei der Änderung des Körperschaftsteuergesetzes betreffend umwandlungssteuerrechtliche Übernahmegewinne (2 BvL 1/09) überschritt der Vermittlungsvorschlag sowohl den Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens als auch die Grenzen des Anrufungsbegehrens, das nur die Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen betraf.
Sachverhalt:
I. Das Haushaltsbegleitgesetz 2004 beruht auf einem Gesetzentwurf der Bundesregierung, der vor allem wesentliche Elemente des Haushaltsstabilisierungskonzeptes 2003 der Bundesregierung, unter anderem den Abbau von Subventionen, umsetzen sollte. Der Entwurf wurde im ersten Durchgang vom Bundesrat abgelehnt. Zeitgleich erarbeitete eine Arbeitsgruppe unter Leitung der Ministerpräsidenten der Länder Hessen und Nordrhein-Westfalen, Roland Koch und Peer Steinbrück, das sogenannte Koch/Steinbrück-Papier, das einen umfassenden Subventionsabbau vorsah und am 30. September 2003 veröffentlicht wurde. Das 61 Seiten sowie einen Anhang von weiteren 52 Seiten umfassende Papier enthielt im Wesentlichen Listen von – im Einzelnen nach den gesetzlichen Vorschriften benannten – Steuervergünstigungen und von Finanzhilfen, die grundsätzlich pauschal um jeweils 12 % gekürzt werden sollten. Zu den Vorschlägen zählte die Erhöhung der ermäßigten Biersteuersätze für kleinere Brauereien in § 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG sowie die (weitere) Begrenzung des Betriebskostenabzugs von Bewirtungsaufwendungen durch Herabsenkung der in § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG geregelten Quote von 80 % der angemessenen und nachgewiesenen Aufwendungen auf 70 %. In der ersten Beratung des Haushaltsbegleitgesetzes 2004 im Deutschen Bundestag am 9. September 2003 wurden die Vorschläge des Koch/Steinbrück-Papiers in abstrakter Form angesprochen, ohne dass das Biersteuergesetz oder Änderungen des Einkommensteuergesetzes betreffend die Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen erwähnt wurden. Die Gesetzesvorlage wurde federführend dem Haushaltsausschuss und mitberatend dem Finanzausschuss des Deutschen Bundestages zugewiesen. In den Sitzungen sowohl des Haushaltsausschusses als auch des Finanzausschusses am 15. Oktober 2003 stellten Minister der Länder Nordrhein-Westfalen und Hessen die Vorschläge der Arbeitsgruppe Koch/Steinbrück teilweise vor; sie baten darum, diese in die Beratungen des Gesetzentwurfs miteinzubeziehen. Beide Ausschüsse sprachen sich dafür aus, den Gesetzentwurf in zum Teil geänderter Fassung, jedoch ohne Berücksichtigung des Koch/Steinbrück-Papiers anzunehmen. In der zweiten und dritten Beratung des Deutschen Bundestages zum Haushaltsbegleitgesetz 2004 am 17. Oktober 2003 wurden die Vorschläge zum Subventionsabbau der Ministerpräsidenten von Hessen und Nordrhein-Westfalen zwar erwähnt, einzelne Punkte des Papiers aber nicht erörtert. Der Gesetzentwurf wurde in zweiter Beratung sowie in der Schlussabstimmung in der Ausschussfassung angenommen. Der Bundesrat verlangte im zweiten Durchgang die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten und die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück in den Gesetzentwurf einzubeziehen. Der Vermittlungsausschuss einigte sich am 16. Dezember 2003 unter anderem auf einen dem Koch/Steinbrück-Papier entsprechenden Vorschlag zu Änderungen der Biersteuer-sätze sowie der Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen; die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses wurde in der Sitzung des Deutschen Bundestages am 19. Dezember 2003 angenommen. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz am 29. Dezember 2003 zu. Das Gesetz wurde am 31. Dezember 2003 im Bundesgesetzblatt verkündet und trat am 1. Januar 2004 in Kraft.
II. Das Steuerbereinigungsgesetz 1999 (StBereinG 1999) geht auf inhaltsgleiche Gesetzentwürfe der Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung zurück, die in insgesamt 25 Artikeln Änderungen diverser steuerlicher Vorschriften enthielten. Der federführende Finanzausschuss des Bundestages empfahl, die Regelung des § 23 Abs. 2 Satz 5 Körperschaftsteuergesetz (KStG) 1999 einzufügen. Dadurch sollte verhindert werden, dass über die Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft, an der Kapitalgesellschaften als Gesellschafter beteiligt sind, eine nicht gewollte Steuerentlastung dadurch eintritt, dass die Muttergesellschaft die mit dem Steuersatz von 45 % bereits von der Tochtergesellschaft entrichtete Körperschaftsteuer anrechnen kann, obwohl sie den mit dem Formwechsel erzielten Gewinn nur mit dem niedrigeren Steuersatz von 40 % versteuern muss (sogenanntes „Herabschleusen“ der Körperschaftsteuerbelastung). Eine besondere Regelung zum zeitlichen Anwendungsbereich der vorgeschlagenen Ergänzung empfahl der Finanzausschuss nicht. Nach dem Gesetzentwurf sollte die Neufassung des Körperschaftsteuergesetzes erstmals für den Veranlagungszeitraum 2000 gelten. Damit verblieb eine zeitliche Lücke, da der Körperschaftsteuersatz bereits zum 1. Januar 1999 von 45 % auf 40 % gesenkt worden war und damit die Möglichkeit des Herabschleusens der Körperschaftsteuerbelastung ab diesem Zeitpunkt bestanden hätte, der von dem Finanzausschuss vorgeschlagene § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 aber erst ein Jahr später gelten sollte. Der Bundestag verabschiedete das Steuerbereinigungsgesetz 1999 in der vom Finanzausschuss empfohlenen Fassung, ohne dass die Ergänzung von § 23 Abs. 2 KStG 1999 um einen neuen Satz 5 in den umfangreichen parlamentarischen Debatten ausdrücklich angesprochen wurde. Der Bundesrat behandelte das Steuerbereinigungsgesetz 1999 im zweiten Durchgang ebenfalls ohne nähere Auseinandersetzung mit den vorgesehenen Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes. Er verlangte die Einberufung des Vermittlungsausschusses mit dem Ziel, in Art. 1 StBereinG 1999 die Nr. 6, 10, 15a und 30 Buchstabe f – hierbei handelte es sich um Änderungen des Einkommensteuergesetzes betreffend die Besteuerung der Erträge von Kapitallebensversicherungen – zu streichen.
Die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses sah zum einen die Streichung der Vorschriften zur Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen vor, wegen derer der Vermittlungsausschuss einberufen worden war. Zum anderen fanden sich darin zahlreiche weitere Änderungen und Ergänzungen des Steuerbereinigungsgesetzes 1999, die unterschiedliche Regelungsbereiche betrafen und keinen sachlichen Bezug zur Besteuerung von Kapitallebensversicherungen aufwiesen. In den Erörterungen des Vermittlungsausschusses waren sie als „technische Änderungen“ bezeichnet worden, auf die man sich in nicht protokollierten Gesprächen geeinigt habe. Hierzu zählte die Einfügung der Vorschrift des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999, nach dessen Regelung § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 bereits für den Veranlagungszeitraum 1999 anzuwenden war. Der Bundestag nahm die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses am 16. Dezember 1999 an. Der Bundesrat stimmte dem Gesetz in der geänderten Fassung zu. Das Gesetz wurde am 29. Dezember 1999 im Bundesgesetzblatt verkündet.
III. Den Verfahren liegen Klagen von Steuerpflichtigen zugrunde, die durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 beziehungsweise das Haushaltsbegleitgesetz 2004 belastetet wurden. Eine Vorlage des Bundesfinanzhofs (2 BvL 1/09) betrifft die Frage, ob die Vorschrift des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des StBereinG 1999 in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen ist. Zwei weitere Vorlagen des Bundesfinanzhofs (2 BvL 4/11 und 2 BvL 5/11) haben die Erhöhung der ermäßigten Biersteuersätze für kleinere Brauereien zum Gegenstand. Die Vorlage des Finanzgerichts Baden-Württemberg (2 BvL 4/13) betrifft die formelle Verfassungsmäßigkeit von § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG in der Fassung des Haushaltsbegleitgesetzes 2004, durch den der Betriebskostenabzug von Bewirtungsaufwendungen weiter begrenzt wurde.
Wesentliche Erwägungen des Senats:
I. Die Kompetenzen des Vermittlungsausschusses (Art. 77 Abs. 2 GG) und ihre Grenzen sind in der Verfassung nicht ausdrücklich geregelt. Sie ergeben sich aber aus seiner Funktion und Stellung in dem gemäß dem Grundgedanken des Art. 20 Abs. 2 GG durch Art. 38 Abs. 1 Satz 2, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 77 ff. GG ausgestalteten Gesetzgebungsverfahren und sind in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geklärt.
1. Der Vermittlungsausschuss hat kein eigenes Gesetzesinitiativrecht, sondern vermittelt zwischen den zuvor parlamentarisch beratenen Regelungsalternativen. Seine Einrichtung zielt auf die Aushandlung von Kompromissen zwischen den gesetzgebenden Körperschaften, indem die für ein konkretes Gesetzgebungsvorhaben maßgeblichen politischen Meinungen zum Ausgleich gebracht werden. Er ist darauf beschränkt, auf der Grundlage des Gesetzesbeschlusses und des vorherigen Gesetzgebungsverfahrens Änderungsvorschläge zu erarbeiten, die sich im Rahmen der parlamentarischen Zielsetzung des Gesetzgebungsvorhabens und zugleich innerhalb der durch das Anrufungsbegehren gesteckten Grenzen bewegen und die jedenfalls im Ansatz sichtbar gewordenen politischen Meinungsverschiedenheiten zwischen Deutschem Bundestag und Bundesrat ausgleichen. Es geht dagegen nicht um eine nochmalige freie Beratung des Gesetzgebungsvorschlages, zu dem diese unterschiedliche Positionen eingenommen haben.
2. Die Kompetenzverteilung im Verhältnis zwischen den Gesetzgebungsorganen weist dem Deutschen Bundestag die entscheidende Funktion im Gesetzgebungsverfahren zu: Die Bundesgesetze werden nach Art. 77 Abs. 1 Satz 1 GG vom Bundestag beschlossen. Der Bundesrat ist demgegenüber auf die Mitwirkung bei der Gesetzgebung des Bundes beschränkt (Art. 50 GG); er kann durch einen Einspruch oder die Verweigerung einer erforderlichen Zustimmung Einfluss auf die Gesetzgebung nehmen. Der Vermittlungsvorschlag ist deshalb inhaltlich und formal an den durch den Deutschen Bundestag vorgegebenen Rahmen gebunden. Der Vorschlag muss dem Bundestag aufgrund der dort geführten Debatte zurechenbar sein; dieser muss den Vorschlag auf der Grundlage seiner Debatte über ihm vorliegende Anträge und Stellungnahmen als ein ihm zuzurechnendes und von ihm zu verantwortendes Ergebnis seines parlamentarischen Verfahrens erkennen und anerkennen können. Es sind nur diejenigen Umstände zu berücksichtigen, die im maßgeblichen Gesetzgebungsverfahren selbst liegen. Die Reichweite eines Vermittlungsvorschlags ist deshalb durch diejenigen Regelungsgegenstände begrenzt, die bis zur letzten Lesung im Bundestag in das jeweilige Gesetzgebungsverfahren eingeführt waren. Auch wenn diese Einführung in das Verfahren nicht in Form eines ausformulierten Gesetzentwurfs erfolgt sein muss, so muss der Regelungsgegenstand, der zur Grundlage eines Vorschlags im Vermittlungsausschuss werden kann, doch in so bestimmter Form vorgelegen haben, dass seine sachliche Tragweite dem Grunde nach erkennbar war.
3. Die verfassungsrechtlichen Rechte der Abgeordneten, die aus ihrem in Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG verankerten Status folgen, umfassen nicht nur das Recht, im Deutschen Bundestag abzustimmen, sondern auch das Recht zu beraten. Grundlage einer sinnvollen Beratung muss dabei eine hinreichende Information des Abgeordneten über den Beratungsgegenstand sein. Voraussetzung für das Aufgreifen eines Regelungsgegenstandes durch den Vermittlungsausschuss ist daher, dass die betreffenden Anträge und Stellungnahmen im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss bekannt gegeben worden sind und grundsätzlich alle Abgeordneten die Möglichkeit hatten, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür eine Mehrheit im Parlament zu suchen. Diese Möglichkeit wird verschlossen, wenn Regelungsgegenstände erst nach der letzten Lesung des Bundestages in das Gesetzgebungsverfahren eingeführt werden.
4. Der Grundsatz der Parlamentsöffentlichkeit nach Art. 42 Abs. 1 Satz 1 GG ist ein wesentliches Element des demokratischen Parlamentarismus. Öffentliches Verhandeln von Argument und Gegenargument, öffentliche Debatte und öffentliche Diskussion sind wesentliche Elemente des demokratischen Parlamentarismus. Das im parlamentarischen Verfahren gewährleistete Maß an Öffentlichkeit der Auseinandersetzung und Entscheidungssuche eröffnet Möglichkeiten eines Ausgleichs widerstreitender Interessen und schafft die Voraussetzungen der Kontrolle durch die Bürger. Entscheidungen von erheblicher Tragweite muss deshalb grundsätzlich ein Verfahren vorausgehen, das der Öffentlichkeit Gelegenheit bietet, ihre Auffassungen auszubilden und zu vertreten, und das die Volksvertretung dazu anhält, Notwendigkeit und Umfang der zu beschließenden Maßnahmen in öffentlicher Debatte zu klären. Könnte sich der Vermittlungsausschuss von der Grundlage des Gesetzesbeschlusses und des vorherigen Gesetzgebungsverfahrens lösen, so würde der von Verfassungs wegen gebotene Zusammenhang zwischen der öffentlichen Debatte im Parlament und der späteren Schlichtung zwischen den an der Gesetzgebung beteiligten Verfassungsorganen zulasten der öffentlichen Beobachtung des Gesetzgebungsverfahrens aufgelöst. Denn der Vermittlungsausschuss tagt im Interesse der Effizienz seiner Arbeit unter Ausschluss der Öffentlichkeit und muss seine Empfehlungen nicht unmittelbar vor der Öffentlichkeit verantworten.
5. Durch das Anrufungsbegehren kann der Vermittlungsauftrag innerhalb des Rahmens des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens weiter eingeschränkt werden. Das Grundgesetz verhält sich nicht zum zulässigen Inhalt eines Anrufungsbegehrens; es lässt auch weite Anrufungsbegehren zu, die ein heterogenes Artikelgesetz insgesamt in Bezug nehmen. Wird der Anrufungsauftrag indes präzise gefasst und auf einzelne Vorschriften begrenzt, muss der Vermittlungsausschuss die übrigen Regelungen des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes als endgültig hinnehmen. Dem Vermittlungsausschuss ist der eigenständige Zugriff auf Gesetzesteile, auf die sich das Anrufungsbegehren nicht erstreckt, verwehrt. Er wird nicht kraft einer autonomen Stellung im Gesetzgebungsverfahren tätig, sondern empfängt seinen Auftrag im Rahmen des Legitimationsgrundes und der Grenzen des Anrufungsbegehrens.
6. Die aufgezeigten Schranken schließen die Korrektur von im Gesetzesbeschluss enthaltenen offensichtlichen Unrichtigkeiten jenseits der dem Vermittlungsausschuss dadurch gesteckten Grenzen nicht aus. Allerdings ist eine solche Korrektur wegen des den gesetzgebenden Körperschaften zukommenden Anspruchs auf Achtung und Wahrung der allein ihnen zustehenden Kompetenz, den Inhalt von Gesetzen zu bestimmen, nur in sehr engen Grenzen zulässig. Sie beschränkt sich auf offensichtliche Unrichtigkeiten. Dabei kann sich eine offensichtliche Unrichtigkeit nicht allein aus dem Normtext, sondern insbesondere auch unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und der Materialien des Gesetzes ergeben. Maßgebend ist, dass mit der Berichtigung nicht der rechtlich erhebliche Gehalt der Norm und mit ihm seine Identität angetastet wird.
II. Nach diesen Maßstäben sind die durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 vorgenommenen Änderungen von § 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG sowie § 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG nicht in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen.
1. Die Art und Weise der Einbringung des Koch/Steinbrück-Papiers in das parlamentarische Verfahren des Deutschen Bundestages und seine Behandlung in dessen Ausschüssen sowie im Plenum eröffneten dem Vermittlungsausschuss nicht die Kompetenz, die in Rede stehenden Änderungen in den Vermittlungsvorschlag aufzunehmen. Der Vorschlag des Vermittlungsausschusses, die Ermäßigung der Biersteuer für kleinere Brauereien zu kürzen (§ 2 Abs. 2 Sätze 1 und 4 BierStG 1993) und die Quote der steuerlichen Abziehbarkeit von Bewirtungsaufwendungen zu reduzieren (§ 4 Abs. 5 Satz 1 Nr. 2 Satz 1 EStG), kann dem Bundestag nicht aufgrund einer dort geführten Debatte zugerechnet werden. Die Änderung der Biersteuersätze und die Absenkung der Abzugsfähigkeit von Bewirtungsaufwendungen sind im Gesetzgebungsverfahren vor dem Gesetzesbeschluss des Bundestages nicht in einer Weise bekannt gegeben worden, die den Abgeordneten in Wahrnehmung ihrer ihnen aufgrund ihres freien Mandats obliegenden Verantwortung die Möglichkeit gegeben hätte, diese zu erörtern, Meinungen zu vertreten, Regelungsalternativen vorzustellen und hierfür in dem öffentlichen parlamentarischen Verfahren eine Mehrheit zu suchen. Das Koch/Steinbrück-Papier war – nicht nur in Bezug auf die vorgeschlagene Kürzung von Finanzhilfen (vergleiche dazu
BVerfGE 125, 104 <124>), sondern auch in Bezug auf die hier zu beurteilenden Vorschläge zum Abbau von Steuervergünstigungen – nach der Art seiner Einbringung und Behandlung im Bundestag nicht auf parlamentarische Beratung angelegt, sondern hatte das Ziel, ohne die Öffentlichkeit einer parlamentarischen Debatte und eine hinreichende Information der Mitglieder des Deutschen Bundestages den als notwendig erkannten politischen Kompromiss erst im Vermittlungsausschuss herbeizuführen. Ein für die einzelnen Abgeordneten und für die Öffentlichkeit erkennbarer, hinreichend konkreter Hinweis darauf, dass unmittelbar durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 der vorgeschlagene Abbau von Steuervergünstigungen vorgenommen, also auch die Ermäßigung der Biersteuer für kleinere Brauereien gekürzt und die Quote der steuerlichen Absetzbarkeit von Bewirtungsaufwendungen reduziert werden sollte, ergab sich weder aus dem Gesetzentwurf der Bundesregierung noch aus der Behandlung des Koch/Steinbrück-Papiers in den Ausschüssen oder im Plenum des Bundestages. Die gleichzeitige Presseberichterstattung über das Koch/Steinbrück-Papier sowie dessen Verfügbarkeit im Internet sind dafür ohne Belang.
2. Das Koch/Steinbrück-Papier wurde auch nicht förmlich als Bundesratsinitiative (Art. 76 Abs. 1 GG) in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht.
3. Die Einbeziehung des Inhalts des Koch/Steinbrück-Papiers in den Beschlussvorschlag des Vermittlungsausschusses lässt sich nicht allein damit rechtfertigen, dass der Bundesrat in seinem Anrufungsbegehren verlangte, das Gesetz grundlegend zu überarbeiten und die Vorschläge der Ministerpräsidenten Koch und Steinbrück zum Abbau von Steuervergünstigungen und Finanzhilfen einzubeziehen. Hielte man den Vermittlungsausschuss allein aufgrund des weit gefassten Anrufungsbegehrens für berechtigt, die im Koch/Steinbrück-Papier vorgeschlagenen Kürzungen von Steuervergünstigungen in seinen Beschlussvorschlag einzubeziehen, so würde das vom Grundgesetz vorgegebene Rollenverhältnis des Bundestages und des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren in sein Gegenteil verkehrt: Die Anrufung käme dann einer Gesetzesinitiative des Bundesrates gleich, die nur auf dem verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Weg zulässig ist. Dem Bundestag würde auf diese Weise eine Veto-Position zugeordnet, die gerade ein kennzeichnendes Merkmal der Stellung des Bundesrates im Gesetzgebungsverfahren ist.
4. Der Mangel im Gesetzgebungsverfahren berührt die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Normen. Dabei kann die Frage, ob und in welchen Fällen die Evidenz eines Fehlers Voraussetzung seiner Rechtsfolgenerheblichkeit ist, auf sich beruhen. Daran, dass die Art und Weise der Einbringung des Koch/Steinbrück-Papiers in das parlamentarische Verfahren des Deutschen Bundestages und seine Behandlung in dessen Ausschüssen sowie im Plenum dem Vermittlungsausschuss nicht die Kompetenz eröffneten, die in Rede stehenden Änderungen in den Vermittlungsvorschlag aufzunehmen, konnte kein vernünftiger Zweifel bestehen. Für die an der Gesetzgebung beteiligten Organe war im Jahr 2003 bei verständiger Würdigung erkennbar, dass das Gesetzgebungsverfahren nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entsprach. Die verfassungsrechtlichen Maßstäbe waren durch das Senatsurteil vom 7. Dezember 1999 (BVerfGE 101, 297) geklärt.
5. Materiell sind die zur Prüfung vorgelegten Vorschriften allerdings mit der Verfassung vereinbar.
6. Unter dem Gesichtspunkt der Verlässlichkeit der Finanz- und Haushaltsplanung für weitgehend schon abgeschlossene Zeiträume hat der Senat lediglich die Unvereinbarkeit der angegriffenen Normen mit dem Grundgesetz festgestellt. Sie bleiben für den Zeitraum bis zu ihrer – bereits erfolgten – Bestätigung beziehungsweise Neuregelung anwendbar.
III. Nach den oben dargelegten Maßstäben ist auch § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 nicht in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen.
1. Der Vermittlungsausschuss hat eine Bestimmung in seinen Einigungsvorschlag aufgenommen, die den Rahmen des bisherigen Gesetzgebungsverfahrens überschreitet. Die zeitliche Anwendungsregel des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 war bis zu dem Gesetzesbeschluss des Bundestags nicht Gegenstand des Gesetzgebungsverfahrens. Ihr Normgehalt ist dem Bundestag nicht aufgrund der dort geführten Debatte zurechenbar. Der Gesetzentwurf wurde zwar im Bundestag auf Vorschlag des Finanzausschusses um die Regelung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 ergänzt, durch den bestimmte Übernahmegewinne einem Steuersatz von 45 % unterworfen werden sollten. Damit sollte eine Herabschleusung der Steuerbelastung innerhalb eines Konzerns auf den allgemeinen Steuersatz von 40 % für Gewinne einer Körperschaft nicht nur - wie bereits seit dem 1. Januar 1999 - durch Gewinnausschüttung, sondern auch durch Umwandlung verhindert werden. Der Gesetzgeber wollte auf diese Weise eine Lücke schließen, die durch das Steuerentlastungsgesetz 1999/2000/2002 entstanden war. Jedoch sah der Vorschlag des Finanzausschusses eine Lückenschließung erst ab dem Veranlagungsjahr 2000 vor, weil die Änderungen des Körperschaftsteuergesetzes nach der in dem Gesetzentwurf des Steuerbereinigungsgesetzes 1999 vorgesehenen Fassung von § 54 Abs. 1 KStG 1999 erstmals für den Veranlagungszeitraum 2000 gelten sollten. Das Vorziehen der Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 auf den 1. Januar 1999 ist erst vom Vermittlungsausschuss empfohlen worden. Die erstmalige Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 bereits ab dem Veranlagungszeitraum 1999 war dem Vorschlag des Finanzausschusses auch nicht inhärent. Die gesetzgeberischen Erwägungen dazu, dass überhaupt eine Lückenschließung erfolgen soll, tragen nicht ohne weiteres auch eine rückwirkende Schließung.
2. Unabhängig davon ist die zur Prüfung vorgelegte Vorschrift auch deshalb nicht in formell verfassungsmäßiger Weise zustande gekommen, weil der Vermittlungsausschuss den ihm durch das Anrufungsbegehren eingeräumten Spielraum überschritten hat. Der Bundesrat hat den Vermittlungsausschuss lediglich zu Art. 1 Nr. 6, 10, 15a und 30 Buchstabe f StBereinG 1999 angerufen. Diese Bestimmungen regeln verschiedene Änderungen des Einkommensteuergesetzes, die sich ausnahmslos zur Besteuerung der Erträge aus Kapitallebensversicherungen verhalten. Auch aus der Begründung des Anrufungsbegehrens ergibt sich eine Meinungsverschiedenheit zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat nur im Hinblick auf die Frage, ob die Erträge von Kapitallebensversicherungen besteuert werden sollen. Durch das auf einzelne Bestimmungen beschränkte und auf eine konkrete Fragestellung gerichtete Anrufungsbegehren war der Vermittlungsausschuss beauftragt, in der Frage der Einführung einer Besteuerung von Erträgen aus Kapitallebensversicherungen zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat zu vermitteln. Für die Regelung des zeitlichen Anwendungsbereichs der Besteuerung bestimmter Übernahmegewinne im Körperschaftsteuergesetz fehlte ihm dagegen die Kompetenz. Diese lag außerhalb der bestehenden Meinungsverschiedenheiten zwischen dem Bundestag und dem Bundesrat, zu deren Ausgleich der Vermittlungsausschuss berufen ist.
3. Mit dem Vorschlag, in § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 die rückwirkende Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 ab dem Veranlagungsjahr 1999 vorzusehen, hat der Vermittlungsausschuss nicht lediglich eine offensichtliche Unrichtigkeit korrigiert. Auch unter Berücksichtigung des Sinnzusammenhangs und der Materialien des Gesetzes ist nicht eindeutig erkennbar, dass der Bundestag eine rückwirkende Lückenschließung beabsichtigte. Mit der Bestimmung der rückwirkenden Anwendung von § 23 Abs. 2 Satz 5 KStG 1999 wird der rechtlich erhebliche Gehalt der Norm verändert. Deshalb handelt es sich nicht um eine Unrichtigkeit, die der Vermittlungsausschuss hätte korrigieren dürfen. Dies gilt selbst dann, wenn der Bundestag die Regelungsbedürftigkeit des rückwirkenden Inkrafttretens zur vollständigen Lückenschließung übersehen haben sollte.
4. Der Mangel im Gesetzgebungsverfahren berührt die Gültigkeit der zur Prüfung vorgelegten Norm. Dabei kann die Frage, ob und in welchen Fällen die Evidenz eines Fehlers Voraussetzung seiner Rechtsfolgenerheblichkeit ist, auch in diesem Fall auf sich beruhen. Für die an der Gesetzgebung beteiligten Organe war bei verständiger Würdigung erkennbar, dass das Verfahren der Einfügung des § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 durch das Steuerbereinigungsgesetz 1999 nicht den Vorgaben des Grundgesetzes entsprach. Im Hinblick auf die Bedeutung der Reichweite des Anrufungsbegehrens war die Verfassungsrechtslage bereits vor dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 1999 (BVerfGE 101, 297) geklärt. Im Übrigen hätte der Vermittlungsausschuss ebenso wie Bundestag und Bundesrat auch die Maßgaben dieses Urteils bei ihren erst nach der Verkündung des Urteils gefassten Beschlüssen berücksichtigen können und müssen.
5. Der Verstoß gegen Art. 20 Abs. 2, Art. 38 Abs. 1 Satz 2, Art. 42 Abs. 1 Satz 1 und Art. 76 Abs. 1 GG führt zur Nichtigkeit von § 54 Abs. 9 Satz 1 KStG 1999 in der Fassung des Steuerbereinigungsgesetzes 1999. Es bestehen keine zwingenden oder auch nur überwiegenden Gründe dafür, vom gesetzlichen Regelfall des § 78 Satz 1 BVerfGG abzuweichen und von einer Nichtigerklärung abzusehen. Dass im Interesse verlässlicher Finanz- und Haushaltsplanung oder eines gleichmäßigen Verwaltungsvollzugs für Zeiträume einer weitgehend abgeschlossenen Veranlagung von einer Nichtigerklärung abgesehen werden müsste, ist angesichts des kurzen Zeitraums, für den sich die Nichtigerklärung auswirkt, nicht ersichtlich.
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