EuGH: Mehrwertsteuerbefreiung, Gemeinwohl, Dienstleistungen selbständiger Zusammenschlüsse von Personen an ihre Mitglieder, Versicherungswesen
Vorlage zur Vorabentscheidung – Steuerwesen – Mehrwertsteuer – Richtlinie 2006/112/EG – Art. 132 Abs. 1 Buchst. f – Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten – Befreiung von Dienstleistungen, die selbständige Zusammenschlüsse von Personen an ihre Mitglieder erbringen – Anwendbarkeit auf das Versicherungswesen
EuGH-Urteil vom 21. September 2017, Rechtssache C-605/15
Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ist dahin auszulegen, dass die darin vorgesehene Befreiung nur die selbständigen Zusammenschlüsse von Personen betrifft, deren Mitglieder eine in Art. 132 dieser Richtlinie genannte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit ausüben, und dass daher die Dienstleistungen von selbständigen Zusammenschlüssen von Personen, deren Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, die keine solche dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit darstellt, nicht unter diese Befreiung fallen.
1 Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (ABl. 2006, L 347, S. 1).
2 Es ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen dem Minister Finansów (Finanzminister, Polen) und der Aviva Towarzystwo Ubezpieczeń na Życie S.A. w Warszawie (im Folgenden: Aviva) wegen einer Einzelfallentscheidung an Letztere über die Auslegung des Art. 43 Abs. 1 Nr. 21 des Ustawa o podatku od towarów i usług (Gesetz über die Steuer auf Gegenstände und Dienstleistungen) vom 11. März 2004 (Dz. U. Nr. 54, Pos. 535, im Folgenden: Mehrwertsteuergesetz), mit dem Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 umgesetzt wird.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Sechste Richtlinie
3 Die Sechste Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern – Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage (ABl. 1977, L 145, S. 1, im Folgenden: Sechste Richtlinie) wurde mit Wirkung vom 1. Januar 2007 durch die Richtlinie 2006/112 aufgehoben und ersetzt. Art. 13 der Sechsten Richtlinie bestimmte:
„A. Befreiungen bestimmter dem Gemeinwohl dienender Tätigkeiten
(1) Unbeschadet sonstiger Gemeinschaftsvorschriften befreien die Mitgliedstaaten unter den Bedingungen, die sie zur Gewährleistung einer korrekten und einfachen Anwendung der nachstehenden Befreiungen sowie zur Verhütung von Steuerhinterziehungen, Steuerumgehungen und etwaigen Missbräuchen festsetzen, von der Steuer:
...
f) die Dienstleistungen, die die selbständigen Zusammenschlüsse von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, die von der Steuer befreit ist, oder für die sie nicht Steuerpflichtige sind, an ihre Mitglieder für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbringen, soweit diese Zusammenschlüsse von ihren Mitgliedern lediglich die genaue Erstattung des jeweiligen Anteils an den gemeinsamen Kosten fordern, vorausgesetzt, dass diese Befreiung nicht zu Wettbewerbsverzerrungen führt;
...“
Verordnung (EWG) Nr. 2137/85
4 Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EWG) Nr. 2137/85 des Rates vom 25. Juli 1985 über die Schaffung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (EWIV) (ABl. 1985, L 199, S. 1) lautet:
„Die Vereinigung hat den Zweck, die wirtschaftliche Tätigkeit ihrer Mitglieder zu erleichtern oder zu entwickeln sowie die Ergebnisse dieser Tätigkeit zu verbessern oder zu steigern; sie hat nicht den Zweck, Gewinn für sich selbst zu erzielen. Ihre Tätigkeit muss im Zusammenhang mit der wirtschaftlichen Tätigkeit ihrer Mitglieder stehen und darf nur eine Hilfstätigkeit hierzu bilden.“
Richtlinie 2006/112
5 Die Richtlinie 2006/112 enthält einen Titel IX („Steuerbefreiungen“), dessen Kapitel 1 „Allgemeine Bestimmungen“ lautet.
6 Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112, der in deren Titel IX Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) enthalten ist, sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
...
f) Dienstleistungen, die selbstständige Zusammenschlüsse von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, die von der Steuer befreit ist oder für die sie nicht Steuerpflichtige sind, an ihre Mitglieder für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbringen, soweit diese Zusammenschlüsse von ihren Mitgliedern lediglich die genaue Erstattung des jeweiligen Anteils an den gemeinsamen Kosten fordern, vorausgesetzt, dass diese Befreiung nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung führt;
...“
7 Art. 135 Abs. 1 in Titel IX Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) der Richtlinie 2006/112 sieht vor:
„Die Mitgliedstaaten befreien folgende Umsätze von der Steuer:
a) Versicherungs‑ und Rückversicherungsumsätze einschließlich der dazugehörigen Dienstleistungen, die von Versicherungsmaklern und ‑vertretern erbracht werden;
...“
Polnisches Recht
8 Art. 43 Abs. 1 Nr. 21 des Mehrwertsteuergesetzes sieht vor:
„Von der Steuer werden befreit: durch selbständige Zusammenschlüsse von Personen erbrachte Dienstleistungen für ihre Mitglieder, deren Tätigkeit von der Steuer befreit ist oder für die sie nicht als Steuerpflichtige gelten, zur Erbringung von Dienstleistungen, die zur Ausübung dieser von der Steuer befreiten oder von ihr ausgenommenen Tätigkeit unmittelbar erforderlich sind, für ihre Mitglieder, wenn diese Zusammenschlüsse sich darauf beschränken, von ihren Mitgliedern die Erstattung der Kosten bis zur Höhe des Betrags zu fordern, der dem auf jeden von ihnen entfallenden individuellen Anteil der gemeinsamen Kosten dieser Zusammenschlüsse entspricht, die im gemeinsamen Interesse getätigt wurden, wenn die Befreiung keine Wettbewerbsverzerrung zur Folge hat.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
9 Aviva ist Teil des Aviva‑Konzerns, der in Europa im Bereich der Versicherungsleistungen und der Absicherung von Rentenansprüchen tätig ist. Ein wesentlicher Tätigkeitsbereich dieses Konzerns sind langfristige Sparanlagen, Fondsverwaltung und Versicherungen.
10 Im Rahmen eines Integrationsprozesses erwägt der Aviva‑Konzern die Schaffung einer Reihe von Zentren für gemeinsame Dienstleistungen in mehreren Mitgliedstaaten. Es ist vorgesehen, dass diese Zentren die zur Ausübung der Versicherungstätigkeit durch die Mitglieder dieses Konzerns unmittelbar erforderlichen Dienstleistungen erbringen, insbesondere Personaldienstleistungen, Finanz‑ und Buchhaltungsdienstleistungen, IT‑Dienstleistungen, Verwaltungsdienstleistungen, Kundenservice‑Dienstleistungen und Dienstleistungen im Bereich der Entwicklung neuer Produkte.
11 Aviva erwägt die Ausübung dieser Tätigkeit mit Hilfe der Errichtung einer Europäischen wirtschaftlichen Interessenvereinigung (im Folgenden: EWIV), die gemäß Art. 3 der Verordnung Nr. 2137/85 keinen Gewinn aus ihrer Tätigkeit erzielt. Mitglieder der EWIV sollen ausschließlich Gesellschaften des Aviva‑Konzerns – darunter Aviva – sein, die eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben.
12 Vor diesem Hintergrund wandte sich Aviva mit der Frage an den Finanzminister, ob die Tätigkeit der EWIV gemäß Art. 43 Abs. 1 Nr. 21 des Mehrwertsteuergesetzes von der Mehrwertsteuer befreit sein könnte. Aviva war der Ansicht, dass dies der Fall sei und dass deshalb die in Polen ansässigen Mitglieder der EWIV, die Gesellschaften seien, die eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausübten, von der Verpflichtung befreit sein müssten, für die ihnen durch die EWIV zugewiesenen Kosten die geschuldete Mehrwertsteuer zu berechnen und zu erklären.
13 Mit Bescheid vom 14. März 2013 erklärte der Finanzminister den Standpunkt der Aviva für unzutreffend. Er stellte fest, dass die in Art. 43 Abs. 1 Nr. 21 des Mehrwertsteuergesetzes genannte Voraussetzung für die Befreiung, dass es nicht zu einer Wettbewerbsverzerrung kommen dürfe, nicht erfüllt werde. Nach Ansicht des Finanzministers verschafft die Anwendung einer Befreiung auf einen selbständigen Zusammenschluss von Personen diesem gegenüber anderen dieselben Tätigkeiten verrichtenden Marktteilnehmern eine privilegierte Marktstellung. Daher sei die genannte Befreiung zu versagen, wenn Marktteilnehmer, die nicht Teil eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen seien und eine ähnliche besteuerte Tätigkeit ausübten, auf dem betroffenen Markt tätig würden, weil sie die Wettbewerbsregeln verletzten könnte.
14 Aviva erhob eine Klage beim Wojewódzki Sąd Administracyjny w Waszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau, Polen) und beantragte insbesondere die Aufhebung dieses Bescheids des Finanzministers. Sie machte geltend, dass dieser Bescheid, nach dem die von Aviva bei der EWIV erworbenen Dienstleistungen nicht unter die betreffende Mehrwertsteuerbefreiung fielen, gegen Art. 43 Abs. 1 Nr. 21 des Mehrwertsteuergesetzes verstoße.
15 Mit Urteil vom 30. Dezember 2013 hob das Wojewódzki Sąd Administracyjny w Warszawie (Woiwodschaftsverwaltungsgericht Warschau) den Bescheid des Finanzministers vom 14. März 2013 auf. Es entschied, dass die geplante EWIV alle Bedingungen für die Anwendung der in Art. 43 Abs. 1 Nr. 21 des Mehrwertsteuergesetzes vorgesehenen Befreiung erfülle. Wettbewerbsverzerrungen könnten nur festgestellt werden, wenn es auf dem Markt der Hilfsdienstleistungen andere Marktteilnehmer als den betreffenden selbständigen Zusammenschluss von Personen gebe, die bereit wären, analoge Dienstleistungen wie die von diesem erbrachten Leistungen anzubieten, und wenn zudem die gegenwärtigen Erwerber der Dienstleistungen, die Mitglieder dieses selbständigen Zusammenschlusses von Personen seien, am Erwerb dieser Dienstleistungen bei einem Marktteilnehmer außerhalb dieses Zusammenschlusses interessiert wären. Nach Ansicht dieses Gerichts wäre es schwierig, einen Marktteilnehmer zu finden, der als Zentrum für gemeinsame Dienstleistungen für Marktteilnehmer in zwölf Mitgliedstaaten Dienstleistungen ohne entsprechenden Gewinn erbringen und dabei ausschließlich im Rahmen des im Ausgangsverfahren in Rede stehenden Zusammenschlusses tätig sein würde.
16 Der Finanzminister legte beim Naczelny Sąd Administracyjny (Oberster Verwaltungsgerichtshof, Polen) Kassationsbeschwerde ein. Dieses Gericht war der Ansicht, dass die genaue Auslegung der Richtlinie 2006/112, insbesondere des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f, nicht klar entschieden sei und die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht alle Zweifel insoweit ausräume.
17 Der Naczelny Sąd Administracyjny (Oberster Verwaltungsgerichtshof) hat deshalb das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
- Ist eine nationale Regelung über die Befreiung eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen von der Mehrwertsteuer, die keine Bedingungen oder Verfahren betreffend die Erfüllung der Voraussetzung einer fehlenden Wettbewerbsverzerrung vorsieht, mit Art. 132 Abs. 1 Buchst. f in Verbindung mit Art. 131 der Richtlinie 2006/112 sowie den Grundsätzen der Effektivität, der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes vereinbar?
- Nach welchen Kriterien ist zu beurteilen, ob die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Voraussetzung einer fehlenden Wettbewerbsverzerrung erfüllt ist?
- Ist es für die Beantwortung der zweiten Frage von Bedeutung, dass der selbständige Zusammenschluss von Personen die Dienstleistungen Mitgliedern erbringt, die den Rechtsordnungen verschiedener Mitgliedstaaten unterliegen?
Zu den Vorlagefragen
18 Einleitend ist zu sagen, dass der Aviva‑Konzern die Schaffung eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen erwägt, dessen Mitglieder Gesellschaften des Aviva‑Konzerns wären, die eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, und dessen Dienstleistungen für unmittelbare Zwecke dieser Tätigkeit erforderlich wären.
19 In diesem Zusammenhang betreffen die vorgelegten Fragen die Auslegung des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112, der eine Befreiung von Dienstleistungen vorsieht, die selbständige Zusammenschlüsse von Personen, die eine Tätigkeit ausüben, die von der Steuer befreit ist oder für die sie nicht Steuerpflichtige sind, an ihre Mitglieder für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbringen.
20 Die Beantwortung dieser Fragen erfordert vorab die Prüfung der Frage, ob diese Bestimmung unter Umständen wie denen des Ausgangsverfahrens, das die Erbringung von Dienstleistungen durch einen selbständigen Zusammenschluss von Personen betrifft, dessen Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, anwendbar ist.
21 Nach ständiger Rechtsprechung kommt es im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingerichteten Verfahrens der Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof dem Gerichtshof zu, dem nationalen Gericht alle Hinweise zur Auslegung des Unionsrechts zu geben, die für die Entscheidung der bei diesem anhängigen Sache von Nutzen sein können, und zwar unabhängig davon, ob das vorlegende Gericht bei seiner Fragestellung Bezug darauf genommen hat oder nicht (Urteil vom 20. Oktober 2016, Danqua, C‑429/15, EU:C:2016:789, Rn. 37 und die dort angeführte Rechtsprechung).
22 Unter diesen Umständen sind dem vorlegenden Gericht auch Hinweise zu der Frage zu geben, ob Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 auch auf Dienstleistungen eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen, dessen Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, die für unmittelbare Zwecke der Ausübung dieser Tätigkeit erbracht werden, Anwendung findet.
23 Hierzu ist darauf hinzuweisen, dass nach dem Wortlaut dieser Bestimmung, der eine von der Steuer befreite Tätigkeit der Mitglieder eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen betrifft, nicht ausgeschlossen werden kann, dass diese Befreiung auf Dienstleistungen eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen, dessen Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, Anwendung finden kann, da Art. 135 Abs. 1 Buchst. a dieser Richtlinie Versicherungsumsätze befreit.
24 Nach ständiger Rechtsprechung sind jedoch bei der Auslegung einer Unionsvorschrift nicht nur deren Wortlaut, sondern auch ihr Zusammenhang und die Ziele zu berücksichtigen, die mit der Regelung, zu der sie gehört, verfolgt werden (Urteile vom 26. April 2012, Able UK, C‑225/11, EU:C:2012:252, Rn. 22, und vom 4. April 2017, Fahimian, C‑544/15, EU:C:2017:255, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
25 Was den Hintergrund von Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 betrifft, ist hervorzuheben, dass er in Titel IX Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) dieser Richtlinie steht. Diese Überschrift weist darauf hin, dass die in der genannten Bestimmung vorgesehene Befreiung nur die selbständigen Zusammenschlüsse von Personen betrifft, deren Mitglieder dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten ausüben.
26 Diese Auslegung wird auch durch die Struktur des Titels IX („Steuerbefreiungen“) dieser Richtlinie bestätigt. Denn Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 steht nicht in Kapitel 1 („Allgemeine Bestimmungen“), sondern in Kapitel 2 dieses Titels. Außerdem wird in diesem Titel zwischen Kapitel 2 („Steuerbefreiungen für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten“) und Kapitel 3 („Steuerbefreiungen für andere Tätigkeiten“) unterschieden, eine Unterscheidung, die darauf hinweist, dass die in Kapitel 2 für bestimmte, dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten vorgesehenen Regelungen nicht auf andere Tätigkeiten, die in Kapitel 3 genannt sind, anwendbar sind.
27 In dem genannten Kapitel 3 steht in Art. 135 Abs. 1 Buchst. a eine Befreiung von „Versicherungs‑ und Rückversicherungsumsätzen“. Damit ergibt sich aus der allgemeinen Systematik der Richtlinie 2006/112, dass sich die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. f vorgesehene Befreiung nicht auf Versicherungs‑ und Rückversicherungsumsätze bezieht, und folglich, dass die von selbständigen Zusammenschlüssen von Personen erbrachten Dienstleistungen, deren Mitglieder im Bereich der Versicherung und der Rückversicherung tätig sind, nicht unter diese Befreiung fallen.
28 Was das Ziel des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f in der Richtlinie 2006/112 angeht, so ist an den Zweck der Gesamtheit der Bestimmungen des Art. 132 dieser Richtlinie zu erinnern, der darin besteht, bestimmte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten von der Mehrwertsteuer zu befreien, um den Zugang zu bestimmten Dienstleistungen und die Lieferung bestimmter Gegenstände unter Vermeidung der höheren Kosten zu erleichtern, die entstünden, wenn diese Dienstleistungen und die Lieferung dieser Gegenstände der Mehrwertsteuer unterworfen wären (Urteil vom 5. Oktober 2016, TMD, C‑412/15, EU:C:2016:738, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung).
29 So fallen die Dienstleistungen eines selbständigen Zusammenschlusses von Personen unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung, wenn diese Dienstleistungen unmittelbar zur Ausübung von in Art. 132 dieser Richtlinie genannten Tätigkeiten fürs Gemeinwohl beiträgt (vgl. entsprechend Urteil vom 5. Oktober 2016, TMD, C‑412/15, EU:C:2016:738, Rn. 31 bis 33).
30 Ferner ist darauf hinzuweisen, dass der Anwendungsbereich der in Art. 132 der Richtlinie 2006/112 vorgesehenen Steuerbefreiungen eng auszulegen ist, da sie Ausnahmen von dem allgemeinen Grundsatz darstellen, dass jede Dienstleistung, die ein Steuerpflichtiger gegen Entgelt erbringt, der Mehrwertsteuer unterliegt (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 5. Oktober 2016, TMD, C‑412/15, EU:C:2016:738, Rn. 34 und die dort angeführte Rechtsprechung).
31 Hieraus ergibt sich, dass Dienstleistungen, die nicht unmittelbar zur Ausübung von in diesem Art. 132 genannten Tätigkeiten fürs Gemeinwohl, sondern zur Ausübung anderer – insbesondere in Art. 135 dieser Richtlinie genannter – befreiter Tätigkeiten beitragen, nicht unter die in Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 vorgesehene Steuerbefreiung fallen können.
32 Daraus folgt, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Befreiung nur die selbständigen Zusammenschlüsse von Personen betrifft, deren Mitglieder in diesem Artikel genannte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten ausüben. Demnach fallen die Dienstleistungen von selbständigen Zusammenschlüssen von Personen, deren Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, die keine solche dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit darstellt, nicht unter diese Befreiung.
33 Hierzu ist festzustellen, dass der Gerichtshof – im Gegensatz zur vorliegenden Rechtssache – im Urteil vom 20. November 2003, Taksatorringen (C‑8/01, EU:C:2003:621), nicht die Frage entschieden hat, ob die in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. f der Sechsten Richtlinie (entspricht Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112) vorgesehene Befreiung auf die Erbringung von Dienstleistungen durch einen selbständigen Zusammenschluss von Personen, dessen Mitglieder dem Gemeinwohl dienende Tätigkeiten ausübten, beschränkt war.
34 Aus den dem Gerichtshof vorliegenden Akten ergibt sich jedoch, dass die Auslegung der in Art. 13 Teil A Abs. 1 Buchst. f der Sechsten Richtlinie vorgesehenen Befreiung, die der Gerichtshof im Urteil vom 20. November 2003, Taksatorringen (C‑8/01, EU:C:2003:621), vorgenommen hat, dazu geführt hat, dass einige Mitgliedstaaten Dienstleistungen von selbständigen Zusammenschlüssen von Personen, die sich aus Marktteilnehmern wie Versicherungsgesellschaften zusammensetzen, befreit haben.
35 Dazu ist jedoch klarzustellen, dass die nationalen Behörden endgültig abgeschlossene Besteuerungszeiträume nicht auf der Grundlage des Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112, wie er in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgelegt wird, wiedereröffnen dürfen (vgl. entsprechend Urteile vom 6. Oktober 2009, Asturcom Telecomunicaciones, C‑40/08, EU:C:2009:615, Rn. 37, sowie vom 21. Dezember 2016, Gutiérrez Naranjo u. a., C‑154/15, C‑307/15 und C‑308/15, EU:C:2016:980, Rn. 68).
36 In Bezug auf nicht endgültig abgeschlossene Besteuerungszeiträume ist daran zu erinnern, dass eine Richtlinie nach ständiger Rechtsprechung nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann, so dass ihm gegenüber eine Berufung auf die Richtlinie als solche nicht möglich ist (vgl. u. a. Urteil vom 19. April 2016, DI, C‑441/14, EU:C:2016:278, Rn. 30 und die dort angeführte Rechtsprechung). Folglich können sich die nationalen Behörden nicht auf Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112, wie er in Rn. 32 des vorliegenden Urteils ausgelegt wird, berufen, um selbständigen Zusammenschlüssen von Personen, die sich aus Versicherungsgesellschaften zusammensetzen, diese Befreiung zu versagen, und damit die Befreiung von Dienstleistungen dieser selbständigen Zusammenschlüsse von Personen von der Mehrwertsteuer zu versagen.
37 Die Verpflichtung des nationalen Richters, bei der Auslegung und Anwendung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts den Inhalt einer Richtlinie heranzuziehen, wird jedoch durch die allgemeinen Rechtsgrundsätze und insbesondere durch den Grundsatz der Rechtssicherheit und das Rückwirkungsverbot begrenzt und darf auch nicht als Grundlage für eine Auslegung contra legem des nationalen Rechts dienen (Urteil vom 15. April 2008, Impact, C‑268/06, EU:C:2008:223, Rn. 100).
38 Daher hat der nationale Richter bei der Auslegung der einschlägigen Vorschriften des innerstaatlichen Rechts, mit denen Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 durchgeführt wird, die allgemeinen Grundsätze des Unionsrechts, insbesondere den Grundsatz der Rechtssicherheit, zu beachten.
39 Demnach brauchen die Fragen 1 bis 3 nicht beantwortet zu werden.
40 Nach allem ist auf das Vorabentscheidungsersuchen zu antworten, dass Art. 132 Abs. 1 Buchst. f der Richtlinie 2006/112 dahin auszulegen ist, dass die darin vorgesehene Befreiung nur die selbständigen Zusammenschlüsse von Personen betrifft, deren Mitglieder eine in Art. 132 dieser Richtlinie genannte dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit ausüben, und dass daher die Dienstleistungen von selbständigen Zusammenschlüssen von Personen, deren Mitglieder eine wirtschaftliche Tätigkeit im Versicherungswesen ausüben, die keine solche dem Gemeinwohl dienende Tätigkeit darstellt, nicht unter diese Befreiung fallen.
An dieser Fassung sind noch Änderungen möglich; verbindlich sind nur die in der "Sammlung der Rechtsprechung des Gerichtshofes und des Gerichts" und im "Amtsblatt der Europäischen Union" veröffentlichten Fassungen.
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