BFH zum Rechnungsmerkmal "vollständige Anschrift" bei der Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug
- Für die Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug ist erforderlich, dass der Leistungsempfänger eine Rechnung besitzt, in der eine Anschrift des Leistenden genannt ist, unter der jener postalisch erreichbar ist.
- Für die Prüfung des Rechnungsmerkmals "vollständige Anschrift" ist der Zeitpunkt der Rechnungsausstellung maßgeblich.
- Die Feststellungslast für die postalische Erreichbarkeit zu diesem Zeitpunkt trifft den den Vorsteuerabzug begehrenden Leistungsempfänger.
BFH-Urteil vom 5.12.2018, XI R 22/14 (veröffentlicht am 6.2.2019)
UStG § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1, § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1
MwStSystRL Art. 226
Vorinstanz: FG Köln vom 12.3.2014 4 K 2374/10 (EFG 2014 S. 1442 = SIS 14 17 82)
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb eine Gebäudereinigung und ein Internetcafé. In seiner Umsatzsteuererklärung für das Jahr 2007 (Streitjahr) vom 18.2.2009 erklärte er Vorsteuerbeträge in Höhe von 38.994,60 €.
Aufgrund einer Umsatzsteuer-Sonderprüfung gelangte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) u.a. zu dem Ergebnis, dass Vorsteuern hinsichtlich der Rechnungen zweier Unternehmen wegen falscher Rechnungsangaben bzw. fehlender Unternehmereigenschaft in Höhe von 11.923,79 € nicht abzugsfähig seien. Dabei handelte es sich um Vorsteuerbeträge, die in Rechnungen des Unternehmers A-Service vom 31.1.2007 bis 31.3.2007 (4.122,80 €) sowie des Unternehmers F-Service vom 31.5.2007 bis 30.11.2007 (7.800,99 €) enthalten waren. Auf den streitgegenständlichen Rechnungen der A-Service lautete die angegebene Adresse T-Straße, X, auf denen von F-Service U-Straße, Y.
In einem Änderungsbescheid zur Umsatzsteuer 2007 vom 7.7.2009 erkannte das FA u.a. die Vorsteuern aus diesen Rechnungen nicht an. Die Festsetzung erging unter dem Vorbehalt der Nachprüfung (§ 164 der Abgabenordnung).
Aufgrund eines Änderungsantrags des Klägers erging am 3.11.2009 ein weiterer Umsatzsteuer-Änderungsbescheid 2007. Dagegen wandte sich der Kläger mit seinem Einspruch. Er begehrte die Berücksichtigung der in den genannten Rechnungen von A-Service und F-Service enthaltenen Vorsteuerbeträge. Diese würden sich auf dem Kläger in Rechnung gestellte Leistungen beziehen. Der Kläger habe vor Auftragsvergabe von beiden Unternehmern Bescheinigungen in Steuersachen, Gewerbeanmeldungen, Bescheinigungen über Umsatzsteuer-Identifikationsnummern (USt-IdNr.) etc. angefordert, um jeweils von einer Unternehmereigenschaft ausgehen zu können. Außerdem sei der Gutglaubensschutz zu beachten.
Das FA wies den Einspruch durch Einspruchsentscheidung vom 8.7.2010 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es insbesondere aus, dass der Leistungsempfänger nicht im Besitz einer nach §§ 14, 14a des Umsatzsteuergesetzes (UStG) ausgestellten Rechnung sei.
Im Rahmen der dagegen gerichteten Klage machte der Kläger geltend, dass die vom FA benannten Mängel hinsichtlich der Rechnungen nicht zutreffend seien. Alle Rechnungen wiesen Namen und Anschrift des leistenden Unternehmers, die Steuernummer, Rechnungsdatum und -nummer, den Umfang und Zeitpunkt der Leistungen sowie die Entgelte und Steuerbeträge und -sätze aus. Der Kläger habe sich darüber hinaus zwecks Feststellung von Identität, Unternehmerschaft und Führung bei einem Finanzamt Nachweise der von ihm beauftragten Firmen geben lassen. Im Einzelnen seien dies für den Unternehmer A-Service
- eine Kopie des Reisepasses mit Aufenthaltsgenehmigung,
- eine Kopie der Anmeldung bei der Meldebehörde der Stadt X für die Adresse T-Straße, X, vom 13.7.2006,
- eine Kopie der Gewerbeanmeldung vom 22.6.2006 für die Betriebsstätte C-Straße, D, vom 22.6.2006, und
- Bescheinigungen in Steuersachen des FA B vom 22.6.2006 für abgeführte Einkommensteuer,
sowie für den Unternehmer F-Service
- eine Kopie des Reisepasses mit Aufenthaltsgenehmigung,
- eine Kopie der Anmeldung bei der Meldebehörde der Stadt Y vom 12.4.2007,
- eine Kopie der Gewerbeanmeldung vom 14.3.2007 für die Betriebsstätte Y-Straße, Y, vom 14.3.2007,
- eine Kopie des Bescheids des Bundeszentralamts für Steuern vom 21.4.2007 über die Erteilung einer USt-IdNr.,
- eine Kopie der Mitteilung des FA Y über die Erteilung einer Steuernummer, und
- eine Kopie der Genehmigung zur Besteuerung der Umsätze nach vereinnahmten Entgelten vom 16.4.2007.
Grundsätzlich gelte bei Eingehen einer Geschäftsbeziehung ein Gutglaubensschutz und nicht von vornherein die Vermutung eines Betruges. Der Kläger habe keinen Grund gehabt, an den Gegebenheiten zu zweifeln, da der Unternehmer A-Service seine Leistungen u.a. entsprechend den Vereinbarungen erfüllt habe. Auch sei der Schriftverkehr zu Zeiten der Geschäftsbeziehung ohne Probleme an die genannte Adresse zugestellt worden und es sei nicht zu Rückläufern gekommen. Im Übrigen seien beide Unternehmen unter den angegebenen Adressen für geschäftliche Korrespondenz erreichbar gewesen.
Das Finanzgericht (FG) Köln wies die Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2014, 1442 veröffentlichten Urteil vom 12.3.2014 4 K 2374/10 ab.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit seiner Revision, mit der er die Verletzung materiellen Rechts geltend macht.
Er trägt u.a. im Hinblick auf das Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Geissel und Butin vom 15.11.2017 C-374/16 und C-375/16 (EU:C:2017:867, Umsatzsteuer-Rundschau - UR - 2017, 970) vor, dass A-Service unter der in den streitigen Rechnungen genannten Adresse (zumindest zeitweise) postalisch erreichbar gewesen sei. Auch F-Service sei unter der in den streitigen Rechnungen genannten Adresse postalisch erreichbar gewesen.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil und die Einspruchsentscheidung des FA vom 8.7.2010 aufzuheben und die Umsatzsteuer unter Änderung des Umsatzsteuerbescheids für 2007 vom 3.11.2009 um 11.923,79 € herabzusetzen.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
II. Die Revision des Klägers ist begründet; sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Das FG hat den Abzug der aus den Rechnungen der Unternehmer A-Service und F-Service geltend gemachten Vorsteuerbeträge mit der Begründung versagt, dass die fraglichen Rechnungen nicht die nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG erforderliche zutreffende vollständige Anschrift des leistenden Unternehmers enthielten. Die Feststellungen des FG lassen allerdings keine abschließende Beurteilung zu der Frage zu, ob die Rechnungsaussteller unter der von ihnen in ihren Rechnungen angegebenen Anschrift postalisch erreichbar gewesen waren.
1. Gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG kann der Unternehmer die gesetzlich geschuldete Steuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt dabei voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt.
a) Nach § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG muss eine Rechnung die Angabe des vollständigen Namens und der vollständigen Anschrift des leistenden Unternehmers und des Leistungsempfängers enthalten.
b) Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind § 15 Abs. 1 Nr. 1, § 14 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 UStG richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass eine zum Vorsteuerabzug berechtigende Rechnung nicht voraussetzt, dass die wirtschaftliche Tätigkeit des leistenden Unternehmers unter der Anschrift ausgeübt wird, die in der von ihm ausgestellten Rechnung angegeben ist. Vielmehr reicht jede Art von Anschrift, einschließlich einer Briefkastenanschrift, aus, sofern der Unternehmer unter dieser Anschrift erreichbar ist (BFH-Urteile vom 13.6.2018 XI R 20/14, BFHE 262, 174, Deutsches Steuerrecht - DStR - 2018, 1967, Rz 40; vom 21.6.2018 V R 25/15, BStBl II 2018, 809, Rz 26; V R 28/16, BStBl II 2018, 806, Rz 28).
2. Die Feststellungen des FG reichen nicht aus, um im Streitfall zu entscheiden, ob der Kläger ein Recht zum Abzug der aus den Rechnungen der Unternehmer A-Service und F-Service geltend gemachten Vorsteuerbeträge hat.
a) Das FG hat vor Ergehen des EuGH-Urteils Geissel und Butin (EU:C:2017:867, UR 2017, 970) zu Recht keine Feststellungen zur postalischen Erreichbarkeit im Zeitpunkt der Rechnungserstellung getroffen. Es liegen insoweit trotz der Ausführungen des FG auf Seite 12 des Urteils, das Fehlen einer ordnungsgemäßen Anschrift habe sich als unstreitig herausgestellt, keine für den BFH nach § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen vor. Während der Prozessbevollmächtigte im Revisionsverfahren wie auch schon im Klageverfahren vorträgt, dass der leistende Unternehmer A-Service wie auch der Unternehmer F-Service (zumindest zeitweise) postalisch erreichbar gewesen seien, trägt das FA vor, dass die postalischen Anschriften der Unternehmer im Streitzeitraum objektiv falsch gewesen seien. Insoweit habe das FG festgestellt, dass dort weder eine Betriebsstätte noch die Wohnung der Rechnungsaussteller vorhanden gewesen sei. Das FG hat daher zu ermitteln, ob die Rechnungsaussteller A-Service und F-Service unter den angegebenen Adressen jedenfalls erreichbar waren.
Maßgeblich hierfür ist der Zeitpunkt der Rechnungsausstellung. Der EuGH hat Art. 226 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) in der Weise teleologisch ausgelegt, dass die Angaben, die eine Rechnung enthalten muss, es den Steuerverwaltungen ermöglichen, die Entrichtung der geschuldeten Steuer und gegebenenfalls das Bestehen des Vorsteuerabzugsrechts zu kontrollieren (EuGH-Urteile Barlis 06 - Investimentos Imobiliários e Turisticos vom 15.9.2016 C-516/14, EU:C:2016:690, UR 2016, 795, Rz 27; Geissel und Butin, EU:C:2017:867, UR 2017, 970, Rz 41). Die Angaben sollen es ermöglichen, eine Verbindung zwischen einer bestimmten wirtschaftlichen Transaktion und einem konkreten Wirtschaftsteilnehmer, dem Rechnungsaussteller, herzustellen (EuGH-Urteil Geissel und Butin, EU:C:2017:867, UR 2017, 970, Rz 42). Diese Kontrollmöglichkeit besteht für das FA erst mit der Erstellung der Rechnung sowie deren Kenntnisnahme und nicht im Zeitpunkt der Leistungserbringung (so im Ergebnis auch FG Bremen, Urteil vom 6.6.2018, 2 K 19/17 (5), juris = SIS 18 11 07; Schumann, DStR 2017, 2719, 2720; Streit, DStR 2017, 2548, 2549; a.A. Jacobs/Zitzl, UR 2017, 974, 976).
Lässt sich eine Erreichbarkeit zu diesem Zeitpunkt nicht ermitteln, trifft die Feststellungslast den Leistungsempfänger. Der Unternehmer, der den Vorsteuerabzug geltend macht, hat die Darlegungs- und Feststellungslast für alle Tatsachen, die den Vorsteuerabzug begründen (EuGH-Urteil SGI vom 27.6.2018 C-459/17 und C-460/17, EU:C:2018:501, Deutsches Steuerrecht/ Entscheidungsdienst 2018, 1057, Rz 39; BFH-Urteile vom 23.10.2014 V R 23/13, BFHE 247, 480, BStBl II 2015, 313, Rz 18; vom 20.10.2016 V R 36/14, BFH/NV 2017, 327, Rz 20; BFH-Beschluss vom 8.7.2015 XI B 5/15, BFH/NV 2015, 1444, Rz 10).
b) Sollten die Unternehmer A-Service und F-Service in diesem Sinne erreichbar gewesen sein, so fehlen Feststellungen des FG zur Frage, ob ansonsten die weiteren materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind. Insoweit hatte das FG - von seinem Standpunkt zutreffend - keine Feststellungen getroffen. Gegenstand dieser Feststellungen wird auch die Frage sein, ob dem FA darin zu folgen ist, dass nach den Gesamtumständen von Abdeckrechnungen zur Verschleierung von illegaler Beschäftigung auszugehen sei. Das FG hat daher gegebenenfalls auch insoweit weitere Ermittlungen vorzunehmen.
c) Für den Fall, dass auf der Grundlage der im zweiten Rechtsgang nachgeholten Feststellungen nicht alle materiellen und formellen Voraussetzungen für die Entstehung und Ausübung des Rechts auf Vorsteuerabzug erfüllt sind, verweist der Senat auf die Rz 57 ff. seines Beschlusses vom 6.4.2016 XI R 20/14 (BFHE 254, 152).
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
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