Die wirksame Bekanntgabe eines an einen Bevollmächtigten adressierten schriftlichen Verwaltungsakts, der im Inland durch die Post übermittelt wird und diesem tatsächlich zugeht, ist nicht davon abhängig, dass die Außenvollmacht des Bevollmächtigten im Bekanntgabezeitpunkt noch besteht.
AO § 80 Abs. 1, § 80 Abs. 2 Satz 1, § 108 Abs. 3, § 122 Abs. 1 Satz 1 und 3, § 122 Abs. 2 Nr. 1, § 124 Abs. 1 Satz 1
FGO § 47 Abs. 1 Satz 1, § 56
Vorinstanz: FG Münster vom 3.11.2021, 6 K 24/21 E,U,F = SIS 22 00 23
I. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) führte im Jahr 2019 eine Außenprüfung bei der Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) durch. Die Prüfungsanordnung wurde an Steuerberater M als Bevollmächtigten der Klägerin übersandt.
Nachdem M seine Steuerberatungskanzlei mit der Kanzlei … GmbH & Co. KG (KG) zusammengelegt hatte, speicherte das FA ausweislich eines Aktenvermerks vom 12.03.2020 die KG als neue Bevollmächtigte der Klägerin.
Nach einer Außenprüfung vertrat das FA die Ansicht, der Haltung von Pensionspferden durch die Klägerin und ihren Ehemann sei die ertragsteuerliche Anerkennung als Erwerbsbetrieb zu versagen. Dementsprechend erließ es unter dem 25.03.2020 Änderungsbescheide, die es an die KG adressierte.
Diese legte gegen die Änderungsbescheide jeweils Einspruch ein, begründete diese jedoch auch in der Folge nicht.
Das FA wies die Einsprüche mit an die KG adressierter Einspruchsentscheidung vom 30.09.2020 (Aufgabe zur Post am selben Tag) schließlich als unbegründet zurück. Mit Schreiben vom 02.10.2020 (Eingang beim FA am selben Tag) sandte die KG dem FA unter Hinweis auf ihre inzwischen erloschene Vollmacht zur Vertretung der Klägerin in Steuersachen die Einspruchsentscheidung zu ihrer Entlastung zurück.
Das FA gab daraufhin am 08.10.2020 eine unmittelbar an die Klägerin adressierte Ausfertigung der Einspruchsentscheidung zur Post.
Im November 2020 kontaktierte die … PartG (PartG) das FA und teilte mit, dass die KG das Mandat bereits im Frühjahr beendet habe. Das FA versandte daraufhin am 04.12.2020 eine Kopie der Einspruchsentscheidung vom 30.09.2020 an die PartG.
Die Klägerin erhob am 04.01.2021 Klage und machte geltend, die KG habe das Mandat bereits Mitte des Jahres 2019 gekündigt. Die Einspruchsentscheidung sei ihr erstmals durch Zusendung an die PartG bekannt gegeben worden.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2022, 217 veröffentlichten Gründen als unzulässig ab. Die am 04.01.2021 beim FG eingegangene Klage sei nicht innerhalb der einmonatigen Klagefrist des § 47 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) erhoben worden. Die an die KG adressierte und am 30.09.2020 zur Post aufgegebene Einspruchsentscheidung gelte am 05.10.2020 als bekannt gegeben. Die Klagefrist sei daher am 05.11.2020 abgelaufen. Unerheblich sei, dass das FA nach Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post, aber vor dem 05.10.2020 vom Widerruf der Vollmacht durch die KG Kenntnis erlangt habe.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts. Sie ist der Auffassung, die am 04.01.2021 beim FG eingegangene Klage sei innerhalb der einmonatigen Klagefrist erhoben worden. Für den Beginn des Fristlaufs sei auf die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung an die PartG, die am 07.12.2020 erfolgt sei, abzustellen. Die Einspruchsentscheidung gelte nicht als der KG am 05.10.2020 bekannt gegeben, da das FA bereits am 02.10.2020 von dem Erlöschen der Vollmacht der KG Kenntnis erlangt habe.
Die Klägerin beantragt,
das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung vom 30.09.2020 aufzuheben und unter Änderung der Bescheide vom 25.03.2020 Verluste in Höhe von … € für das Jahr 2008 sowie in Höhe von … € für das Jahr 2009 zu berücksichtigen sowie den Verlust des Jahres 2008 in das Jahr 2007 zurückzutragen.
Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Maßgeblich für die wirksame Bekanntgabe der an die KG adressierten Einspruchsentscheidung vom 30.09.2020 sei, dass dem FA bei deren Aufgabe zur Post der Widerruf der Vollmacht noch nicht bekannt gewesen sei.
Mit Schriftsatz vom 10.10.2022 zeigte die von der Klägerin im Revisionsverfahren bevollmächtigte Rechtsanwaltskanzlei A an, dass sie die Klägerin nicht mehr vertrete.
II. A. Die Klägerin ist im vorliegenden Revisionsverfahren weiterhin ordnungsgemäß vertreten. Denn die durch sie erfolgte Bevollmächtigung der Rechtsanwaltskanzlei A ist ungeachtet einer etwaigen Kündigung des Vollmachtsvertrags durch A noch wirksam. Eine solche Kündigung erlangt gemäß § 62 Abs. 4, § 155 FGO i.V.m. § 87 der Zivilprozessordnung erst durch die Anzeige der Bestellung eines anderen Prozessbevollmächtigten Wirksamkeit (s. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 14.12.2011 ‑ X B 42/11, Rz 6 und vom 08.10.2014 ‑ I B 197/13, Rz 3, jeweils m.w.N.). Ein neuer Prozessbevollmächtigter ist jedoch im Revisionsverfahren von der Klägerin nicht bestellt worden.
B. Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 FGO). Das FG hat die Klage zu Recht als unzulässig abgewiesen, da die Klägerin die Klage erst nach Ablauf der einmonatigen Klagefrist erhoben hat. Es hat zutreffend entschieden, dass die Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung an die KG wirksam war und die Klagefrist in Lauf gesetzt hat.
1. a) Gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO beträgt die Frist für die Erhebung der Anfechtungsklage einen Monat; sie beginnt mit der Bekanntgabe der Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf (Einspruchsentscheidung).
b) Nach § 122 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) ist ein Verwaltungsakt gegenüber demjenigen bekannt zu geben, für den er bestimmt ist oder der von ihm betroffen wird; er kann aber gemäß Satz 3 der Vorschrift auch gegenüber einem Bevollmächtigten bekannt gegeben werden. § 122 Abs. 1 Satz 3 AO räumt der Finanzbehörde mithin ein Ermessen ein, ob sie den Verwaltungsakt an den Beteiligten oder an dessen Bevollmächtigten bekannt gibt.
c) Wird die Einspruchsentscheidung durch die Post übermittelt (§ 366 i.V.m. § 122 Abs. 2 AO), gilt sie gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn sie nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.
2. Die Einspruchsentscheidung ist der KG am 05.10.2020 wirksam bekannt gegeben worden. Die einmonatige Klagefrist war daher zum Zeitpunkt der Klageerhebung (04.01.2021) abgelaufen.
a) Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, das FA habe im Zeitpunkt der Absendung der Einspruchsentscheidung noch davon ausgehen dürfen, dass die KG Bevollmächtigte der Klägerin gewesen sei. Zwar fehlt es an Feststellungen, ob die Klägerin der KG für die Durchführung des Einspruchsverfahrens eine Vollmacht erteilt hatte. Diesbezügliche Feststellungen waren indes entbehrlich. Denn die Bevollmächtigung der KG, einer Berufsausübungsgesellschaft im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 2 des Steuerberatungsgesetzes, wird vorliegend jedenfalls für die Durchführung des Einspruchsverfahrens gemäß § 80 Abs. 2 Satz 1 AO vermutet, da sie für die Klägerin in diesem Verfahren gehandelt hat. So hatte die KG für die Klägerin am 30.04.2020 die Einsprüche gegen die streitgegenständlichen Steuerbescheide eingelegt und überdies in der Folgezeit telefonisch um Fristverlängerung für die Begründung dieser Einsprüche gebeten (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 16.03.2022 ‑ VIII R 19/19, BFHE 275, 510, BStBl II 2022, 459, Rz 19, m.w.N.).
b) Das FA hat das ihm damit gemäß § 122 Abs. 1 Satz 3 AO eingeräumte Ermessen, die Einspruchsentscheidung vom 30.09.2020 der KG als der (vermuteten) Bevollmächtigten der Klägerin anstatt der Klägerin selbst bekannt zu geben, fehlerfrei ausgeübt. Angesichts des Auftretens der KG im Einspruchsverfahren der Klägerin ist ein Ermessensfehler nicht erkennbar.
c) Die Einspruchsentscheidung ist laut Absendevermerk des FA am 30.09.2020 zur Post gegeben worden. Sie gilt daher der KG als am Montag, dem 05.10.2020, bekannt gegeben (§ 108 Abs. 3 und § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO).
d) Der Bekanntgabevermutung gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO steht nicht entgegen, dass das FA nach der Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post durch das bei ihm am 02.10.2020 eingegangene Schreiben von dem Widerruf der Vollmacht durch die KG Kenntnis erlangt hat.
aa) Nach § 80 Abs. 1 Satz 3 AO wird der Widerruf der Vollmacht der Finanzbehörde gegenüber (erst) wirksam, wenn er ihr zugeht. Bis zu diesem Zeitpunkt kann das FA noch wirksam Verfahrenshandlungen im Sinne von § 80 Abs. 1 Satz 2 AO gegenüber dem Bevollmächtigten vornehmen (s. BFH-Urteil vom 14.11.2012 ‑ II R 14/11, Rz 13).
bb) Entgegen der Auffassung der Klägerin ist die wirksame Bekanntgabe eines an einen Bevollmächtigten adressierten Verwaltungsakts, der durch die Post übermittelt wird, nicht davon abhängig, dass die Vollmacht ‑‑anders als im Streitfall‑‑ auch bei Ablauf der Frist des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO noch besteht (ebenso FG Brandenburg, Urteil vom 30.08.2000 ‑ 2 K 779/97 E, EFG 2001, 154; Wernsmann in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 80 AO Rz 169; Burbaum/Uphues, Deutsches Steuerrecht kurzgefaßt ‑‑DStRK‑‑ 2022, 56).
(1) Dies ergibt sich bereits aus dem Wortlaut des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO, der die Bekanntgabe am dritten Tage nach der Aufgabe zur Post ohne weitere tatbestandliche Voraussetzungen vermutet, es sei denn, der Verwaltungsakt ist nicht oder zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen.
(2) Gestützt wird dies durch den Sinn und Zweck des § 80 Abs. 1 Satz 3 AO. Diese Regelung soll nach dem Willen des Gesetzesgebers der Rechtssicherheit des FA dienen (s. BTDrucks VI/1982, S. 131), damit dieses nicht im Nachhinein von dem Umstand einer nicht mehr existierenden Vollmacht überrascht wird. Die Behörde soll sich insoweit auf eine erteilte Vollmacht verlassen können, bis ihr der Widerruf der Vollmacht zugeht. Maßgeblich kann dabei nur der Zeitpunkt der letzten Behördenhandlung sein (vgl. Wernsmann in HHSp, § 80 AO Rz 169), hier also der Zeitpunkt der Aufgabe der Einspruchsentscheidung zur Post. Liegt zu diesem Zeitpunkt eine Vollmacht vor oder wird deren Vorliegen, wie im Streitfall, vermutet und geht der Verwaltungsakt dem Bevollmächtigten auch zu, kann der Beginn der Klagefrist nicht mehr durch einen Widerruf der Vollmacht verhindert werden (s. Burbaum/Uphues, DStRK 2022, 56; für die Wirksamkeit einer Ladung s. BFH-Beschluss vom 21.07.2011 ‑ IV B 99/10, Rz 8; Beschluss des Bundessozialgerichts vom 12.03.1975 ‑ 12 RJ 330/74, Neue Juristische Wochenschrift 1975, 1384 und Beschluss des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 03.01.2000 ‑ 4 Bf 16/99).
(3) Für diese Auslegung spricht auch, dass für die gerichtliche Überprüfung einer Ermessensentscheidung ‑‑hier § 122 Abs. 1 Satz 3 AO‑‑ stets auf den Zeitpunkt der letzten Verwaltungshandlung abzustellen ist. Danach eintretende Umstände sind für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit der Ermessensausübung daher regelmäßig nicht mehr heranzuziehen.
3. a) Durch die Übersendung der Einspruchsentscheidung an die Klägerin wurde keine neue Klagefrist in Gang gesetzt. Zwar hat das FA die Einspruchsentscheidung nach der Anzeige des Widerrufs der Vollmacht durch die KG am 08.10.2020 noch einmal unmittelbar an die Klägerin übersandt. Dies ist jedoch unerheblich, da der Klägerin die Einspruchsentscheidung nach ihrem eigenen Vortrag nicht zugegangen ist.
b) Aber auch der Übermittlung der Einspruchsentscheidung in Kopie an die PartG am 04.12.2020 kommt angesichts der wirksamen Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung an die KG am 05.10.2020 keine Bedeutung zu.
Ein Verwaltungsakt wird nach § 124 Abs. 1 Satz 1 AO gegenüber dem Inhaltsadressaten in dem Zeitpunkt wirksam, in dem er ihm bekannt gegeben wird. In diesem Fall kommt es für alle Folgefragen einschließlich des Beginns der Einspruchs- oder Klagefrist auf den Zeitpunkt der Bekanntgabe dieses Verwaltungsakts an. Hat das FA wegen bestehender Zweifel am Zugang eines Verwaltungsakts einen inhaltsgleichen Verwaltungsakt bekannt gegeben oder eine Bescheidkopie übermittelt, kommt dem nur dann Bedeutung zu, wenn die Bekanntgabe zuvor nicht wirksam gewesen war (s. BFH-Urteile vom 09.12.2009 ‑ X R 54/06, BFHE 228, 111, BStBl II 2010, 732, unter II.1.b aa und vom 14.11.2012 ‑ II R 14/11, Rz 21).
Auch ist der Übersendung einer Kopie der Einspruchsentscheidung vom 30.09.2020 kein neuer Bekanntgabewille des FA zu entnehmen.
4. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand nach § 56 Abs. 1 FGO kommt hinsichtlich der versäumten Klagefrist des § 47 Abs. 1 FGO vorliegend nicht in Betracht. Die Klägerin hat weder innerhalb von zwei Wochen nach Wegfall des Hindernisses einen entsprechenden Antrag gemäß § 56 Abs. 2 FGO gestellt noch ein etwaiges fehlendes Verschulden glaubhaft gemacht.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.
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