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BFH: Beginn der Festsetzungsfrist für die Erbschaftsteuer beim Auffinden eines Testaments

  1. Für die Kenntnis von dem Erwerb im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 der Ab­gabenordnung (AO) ist der rechtsgültige Erwerb maßgebend. Die Anlaufhem­mung gilt für den jeweiligen Erwerb aufgrund eines bestimmten Rechtsgrunds. Lediglich im Hinblick auf diesen Rechtsgrund ist ihre Wirkung mit der einmal erlangten Kenntnis verbraucht.
  2. Maßgebender Zeitpunkt, zu dem ein testamentarisch eingesetzter Erbe si­chere Kenntnis im Sinne von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO von seiner Erbeinsetzung hat, ist der Zeitpunkt einer Entscheidung des Nachlassgerichts über die Wirk­samkeit des Testaments im Erbscheinverfahren, wenn ein anderer möglicher Erbe der Erteilung des Erbscheins entgegentritt.
  3. Ob die Gerichtsentscheidung mit Rechtsmitteln anfechtbar ist oder tatsäch­lich angefochten wird, ist für die Kenntnis im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO unerheblich (Anschluss an Urteil des Bundesfinanzhofs vom 27.04.2022 ‑ II R 17/20, BFH/NV 2022, 901 = SIS 22 11 01).

AO § 170 Abs. 5 Nr. 1

BFH-Urteil vom 4.6.2025, II R 28/22 (veröffentlicht am 30.10.2025)

Vorinstanz: FG Düsseldorf vom 29.6.2022, 4 K 896/20 Erb = SIS 22 14 79

I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist der Neffe der am xx.11.1988 ver­storbenen Erblasserin. Diese hatte mit Testament vom 21.06.1983 den Kläger und dessen Schwester zu gleichen Teilen als Erben eingesetzt. Mit weiterem Testament vom 11.08.1988 hatte sie den Kläger zum Alleinerben bestimmt. Da die Testamente zunächst nicht bekannt waren, wies ein am 05.01.1989 erteilter Erbschein den Kläger und dessen Schwester als Erben zu je ½ auf­grund gesetzlicher Erbfolge aus.

Das seinerzeit zuständige Finanzamt setzte zuletzt mit bestandskräftigem Be­scheid vom 05.07.1994 Erbschaftsteuer fest. Dabei ging es davon aus, dass der Kläger hälftiger Erbe aufgrund gesetzlicher Erbfolge geworden ist.

Im Mai 2003 legte der Kläger dem Amtsgericht … als Nach­lassgericht das von ihm nach der Erteilung des Erbscheins vom 05.01.1989 aufgefundene Testament der Erblasserin vom 11.08.1988 vor. Nach der Eröff­nung des Testaments beantragte er einen ihn als Alleinerben ausweisenden Erbschein. Dem trat seine Schwester entgegen und trug vor, die Erblasserin sei bei der Errichtung des Testaments testierunfähig gewesen. Mit Beschluss vom 27.09.2007 (sogenannter Vorbescheid) kündigte das Nachlassgericht an, den Erbschein wie vom Kläger beantragt zu erteilen. Die Beschwerde der Schwester des Klägers wies das Landgericht … mit Beschluss vom 07.04.2008 zurück. Die gegen diesen Beschluss erhobene weitere Beschwerde wies das Oberlandesgericht … mit Beschluss vom 03.02.2009 zurück. Am 07.10.2009 wurde dem Kläger ein Erbschein erteilt, der ihn als Alleinerben der Erblasserin ausweist.

Am 22.09.2010 erließ der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) einen Änderungsbescheid nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) und setzte gegen den Kläger, den er nunmehr als Alleinerben behandelte, Erb­schaftsteuer in Höhe von … € fest. Mit dem Einspruch machte der Kläger im Wesentlichen den Ablauf der Festsetzungsfrist geltend. Das FA setzte die Erbschaftsteuer mit Einspruchsentscheidung vom 06.03.2020 aus nicht streiti­gen Gründen auf … € herab und wies den Einspruch im Übrigen als un­begründet zurück.

Die Klage hatte keinen Erfolg. Das Finanzgericht (FG) ging davon aus, dass die Festsetzungsfrist bei Erlass des Bescheids vom 22.09.2010 noch nicht abge­laufen gewesen sei. Es vertrat die Auffassung, für die "Kenntnis von dem Er­werb" im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO sei der tatsächlich und rechtlich richtige Erwerb ‑‑aufgrund des Testaments vom 11.08.1988‑‑ maßgebend. Sichere Kenntnis von seinem Erwerb habe der Kläger erst 2009 mit Abschluss des Verfahrens über die Erteilung des Erbscheins, der ihn als Alleinerben aus­weist, erlangt. Das Urteil ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2022, 1581 veröffentlicht.

Mit der Revision rügt der Kläger die Verletzung von § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO. Er vertritt die Auffassung, sichere Kenntnis von dem Erwerb habe im Streitfall spätestens mit Erteilung des Erbscheins im Januar 1989 vorgelegen. Zu die­sem Zeitpunkt habe er davon ausgehen können, dass kein Testament existiere und er aufgrund gesetzlicher Erbfolge Erbe geworden sei. Die von der Erblas­serin errichteten Testamente seien nicht bekannt gewesen. Anhaltspunkte für ihre Existenz hätten nicht bestanden. Mit der einmal erlangten Kenntnis sei die Wirkung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO verbraucht. Das Auffinden eines (neuen) Testaments lasse die Anlaufhemmung nicht wiederaufleben, denn diese solle den Eintritt der Festsetzungsverjährung in Fällen vermeiden, in denen der Steuerpflichtige und das FA in Unkenntnis des Erwerbs untätig geblieben sei­en. Sie diene nicht dazu, die materiell-rechtliche Richtigkeit der Steuerfestset­zung sicherzustellen. Entgegen dem FG komme es daher nicht auf den tat­sächlich und rechtlich richtigen Erwerb an.

Sichere Kenntnis von dem Erwerb habe im Mai 2003 vorgelegen. Zu diesem Zeitpunkt habe er das Testament der Erblasserin vom 11.08.1988 in den Hän­den gehalten. Nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sei je­denfalls mit der Eröffnung des Testaments, deren genauen Zeitpunkt das FG nicht festgestellt habe, die erforderliche Gewissheit über den Erwerb einge­treten.

Der Kläger beantragt,
die Vorentscheidung, den Erbschaftsteuerbescheid vom 22.09.2010 und die Einspruchsentscheidung vom 06.03.2020 aufzuheben
.

Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.

II. Die Revision ist als unbegründet zurückzuweisen, denn die Klageabweisung durch das FG erweist sich im Ergebnis als zutreffend (§ 126 Abs. 4 der Finanz­gerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Bei Erlass des Änderungsbescheids vom 22.09.2010 war noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten und waren die Vorausset­zungen für eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO erfüllt.

1. Gemäß § 169 Abs. 1 Satz 1 AO ist die Änderung einer Steuerfestsetzung nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist, die für die Erb­schaftsteuer regelmäßig vier Jahre beträgt (§ 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO). Die Festsetzungsfrist beginnt mit Ablauf des Kalenderjahres, in dem die Steuer ent­standen ist oder eine bedingt entstandene Steuer unbedingt geworden ist (§ 170 Abs. 1 AO). Die Steuer entsteht bei Erwerben von Todes wegen mit dem Tode des Erblassers (§ 9 Abs. 1 Nr. 1 des Erbschaftsteuer- und Schen­kungsteuergesetzes ‑‑ErbStG‑‑).

2. Abweichend von § 170 Abs. 1 AO beginnt gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO für die Erbschaftsteuer die Festsetzungsfrist bei einem Erwerb von Todes wegen nicht vor Ablauf des Kalenderjahres, in dem der Erwerber Kenntnis von dem Erwerb erlangt hat. Das FG hat zu Recht angenommen, dass für die "Kenntnis von dem Erwerb" im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO auf den rechtsgültigen Erwerb abzustellen ist. Es ist aber zu Unrecht davon ausgegangen, dass siche­re Kenntnis erst mit rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens vor­liegt.

a) Der Kenntnisbegriff im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO entspricht dem des § 30 Abs. 1 ErbStG (BFH-Urteil vom 27.04.2022 ‑ II R 17/20, BFH/NV 2022, 901, Rz 17; Drüen in Tipke/Kruse, § 170 AO Rz 23; Koenig/Gercke, Abgaben­ordnung, 5. Aufl., § 170 Rz 46, jeweils m.w.N.). Ein durch letztwillige Verfü­gung eingesetzter Erbe erlangt Kenntnis von dem Erwerb, wenn er zuverlässig erfahren und somit Gewissheit erlangt hat, dass der Erblasser ihn durch wirk­same letztwillige Verfügung zum Erben eingesetzt hat. Angesichts der Testier­freiheit wird es regelmäßig nicht ausreichen, dass der Erbe das Vorhandensein und den Inhalt eines Testaments kennt. Er muss nach der Sachlage auch da­von ausgehen können, dass der Erblasser nicht zu einem späteren Zeitpunkt das Testament aufgehoben oder anderweitig testiert hat. Wegen der nicht oh­ne weiteres auszuräumenden Ungewissheit darüber, ob der Erblasser ein be­kanntes Testament widerrufen oder geändert hat, ist im Regelfall davon aus­zugehen, dass die Kenntnis erst mit der Eröffnung des Testaments vorliegt (BFH-Urteil vom 27.04.2022 ‑ II R 17/20, BFH/NV 2022, 901, Rz 20).

b) Beantragt ein durch letztwillige Verfügung eingesetzter Erbe einen Erb­schein (§ 2353 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ‑‑BGB‑‑) und tritt ein anderer möglicher Erbe dessen Erteilung entgegen, ist die Kenntnis im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO erst mit der Entscheidung des Nachlassgerichts im Erbschein­verfahren gegeben. Wird durch gerichtliche Entscheidung die Wirksamkeit ei­ner letztwilligen Verfügung festgestellt, hat der darin ausgewiesene Erbe be­reits zu diesem Zeitpunkt ausreichend sichere Kenntnis von seiner Einsetzung als Erbe. Unerheblich ist, ob die Entscheidung des Gerichts mit Rechtsmitteln anfechtbar ist, angefochten wird und welche Entscheidung zu welchem Zeit­punkt gegebenenfalls die Rechtsmittelinstanz trifft (BFH-Urteil vom 27.04.2022 ‑ II R 17/20, BFH/NV 2022, 901, Rz 21).

c) Zwar ist mit der einmal erlangten Kenntnis von dem Erwerb von Todes we­gen die Wirkung des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO verbraucht und eine Verlängerung der Anlaufhemmung nicht mehr möglich. Dies gilt jedoch nur im Hinblick auf den konkreten Rechtsgrund, auf dem der Erwerb von Todes wegen beruht (vgl. BFH-Urteil vom 27.04.2022 ‑ II R 17/20, BFH/NV 2022, 901, Rz 22). Ist der Erwerber testamentarischer Erbe, ist Rechtsgrund des Erwerbs die Verfü­gung von Todes wegen (BFH-Urteil vom 27.04.2022 ‑ II R 17/20, BFH/NV 2022, 901, Rz 17). Für eine Kenntnis von dem Erwerb im Sinne des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO genügt es somit nicht, dass der Erwerber weiß, dass er über­haupt Erbe geworden ist. Er muss vielmehr Kenntnis von dem vollen auf einen bestimmten Rechtsgrund zurückgehenden Erwerb haben (vgl. FG Hamburg, Urteil vom 29.04.1987 ‑ II 208/84, EFG 1987, 572, unter 2.). Ein aufgefunde­nes späteres ‑‑rechtsgültiges‑‑ Testament im Sinne von § 2258 Abs. 1 BGB bildet einen neuen Rechtsgrund für den Erwerb des Erben, sodass dieser für die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO maßgeblich ist.

d) Diese Auslegung entspricht dem Sinn und Zweck des § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO. Die Vorschrift dient der Sicherung des Steueranspruchs (vgl. BFH-Urteile vom 08.03.2017 ‑ II R 2/15, BFHE 257, 345, BStBl II 2017, 751, Rz 22 f., und vom 26.07.2017 ‑ II R 21/16, BFHE 259, 16, BStBl II 2017, 1163, Rz 12, je­weils zu § 170 Abs. 5 Nr. 2 AO). Sie soll gewährleisten, dass der rechtsgültige Erwerb auch dann der Erbschaftsteuer unterworfen werden kann, wenn der Erbe erst nach Jahren Kenntnis von dem Erwerb erlangt. Mit diesem Zweck im Einklang steht die Änderbarkeit einer auf gesetzlicher oder gewillkürter Erbfol­ge beruhenden Steuerfestsetzung, wenn ein (späteres) Testament aufgefun­den wird, das zu einem rechtsgültigen Erwerb führt.

3. Nach diesen Grundsätzen hat die Vorentscheidung im Ergebnis Bestand.

a) Der Änderungsbescheid vom 22.09.2010 ist innerhalb der vierjährigen Fest­setzungsfrist des § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO ergangen. Die Festsetzungsfrist begann gemäß § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht vor Ablauf des Kalenderjahres zu laufen, in dem der Kläger aufgrund des Erlasses des Vorbescheids des Nach­lassgerichts am 27.09.2007 Kenntnis von dem rechtsgültigen Erwerb als Al­leinerbe aufgrund des Testaments vom 11.08.1988 erlangt hat. Entgegen der Auffassung des Klägers war die Anlaufhemmung nach § 170 Abs. 5 Nr. 1 AO nicht durch die Erteilung des Erbscheins im Januar 1989 verbraucht, da dieser auf der gesetzlichen Erbfolge beruhte und nicht ‑‑wie der Vorbescheid vom 27.09.2007‑‑ auf dem rechtsgültigen Erwerb aufgrund des Testaments der Erblasserin vom 11.08.1988. Auf die Erteilung des Erbscheins im Jahre 2009 nach rechtskräftigem Abschluss des Erbscheinverfahrens kommt es entgegen der Auffassung des FG nicht an. Die Festsetzungsfrist begann somit mit Ablauf des Jahres 2007 und endete gemäß § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO mit Ablauf des Jahres 2011.

b) Die Voraussetzungen für eine Korrektur nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO waren im Streitfall unstreitig gegeben. Das nach Erlass des Steuerbescheids vom 05.07.1994 aufgefundene Testament der Erblasserin vom 11.08.1988, mit dem der Kläger zum Alleinerben bestimmt wurde, stellt eine nachträglich be­kannt gewordene Tatsache dar, die zu einer höheren Erbschaftsteuer führt.

4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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