AO § 44, § 45, § 75, § 166, § 191 Abs. 1 Satz 1
BGB § 1008
UStG § 2 Abs. 1
Vorinstanz: FG München vom 9.11.2006, 14 K 4206/04 = SIS 08 03 65
I. Streitig ist, ob der Kläger und Revisionskläger (Kläger) für Umsatzsteuer der "R-GmbH i.L" (im Folgenden: GmbH) nach § 75 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) haftet.
Der Antrag der GmbH auf Eröffnung des Konkursverfahrens wurde mit Beschluss des zuständigen Amtsgerichts (AG) vom 8.1.1999 mangels Masse abgelehnt. Die durch ihren Liquidator vertretene GmbH verkaufte mit notariellem Kaufvertrag vom 25.2.1999 ihren mit einer Produktionshalle bebauten Grundbesitz sowie im Einzelnen aufgeführte bewegliche Gegenstände an den Kläger zum Miteigentum zu 4/10, an H zum Miteigentum zu 5/10 und an A zum Miteigentum zu 1/10. Der Kaufpreis für das Grundstück betrug netto ... DM und für die beweglichen Gegenstände ... DM.
Die Produktionshalle war im Jahr 1995 errichtet worden. Zunächst hatte die GmbH darin Back- und Konditoreiwaren produziert und diese Produkte vertrieben. Ab dem 1.12.1997 hatte die GmbH die Produktionshalle an die B-GmbH vermietet.
Die aus dem Kläger und den beiden anderen Miteigentümern bestehende Bruchteilsgemeinschaft (im Folgenden: Bruchteilsgemeinschaft) meldete das Unternehmen am 30.3.1999 beim zuständigen Finanzamt an und bezeichnete als Unternehmensgegenstand die Vermietung der erworbenen Objekte.
Mit Vertrag vom 4.5.2000 vermietete die Bruchteilsgemeinschaft das erworbene Grundstück mit Rückwirkung zum 25.2.1999 an die H-GmbH, die eine der beiden Gesellschafter der bisherigen Mieterin, der B-GmbH, war.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt - FA -) erließ gegenüber den Miteigentümern unter dem Datum des 9.1.2003 jeweils gleichlautende Haftungsbescheide wegen der Umsatzsteuer der GmbH für 1998 und für das 1. Quartal 1999 über insgesamt ... €. Die Haftung war auf § 75 AO gestützt. Der Haftungsbescheid enthielt den Hinweis, dass die Haftung auf den Bestand des übernommenen Vermögens beschränkt sei.
In der Einspruchsentscheidung vom 9.8.2004 beschränkte das FA den Haftungsbetrag auf die Umsatzsteuer für 1998. Zur Begründung führte es aus, das Finanzgericht (FG) habe mit Urteil vom 13.11.2003 14 K 3494/01 entschieden, dass es sich bei dem Kaufvertrag vom 25.2.1999 um eine nicht steuerbare Geschäftsveräußerung im Ganzen gehandelt habe, so dass die Umsatzsteuer für 1999 durch Bescheid vom 26.7.2004 entsprechend geändert worden sei. Es setzte den Haftungsbetrag auf ... € herab. Im Übrigen wies es den Einspruch als unbegründet zurück.
Das FG wies die Klage ab.
Die unternehmerische Tätigkeit der GmbH habe im Zeitpunkt des Kaufvertrages ausschließlich in der Vermietung von Ladeneinrichtungen und in der Verpachtung des Produktionsbetriebs bestanden. Dass die GmbH nach der Übertragung der Produktionshalle weiter die Ladeneinrichtung verschiedener Geschäfte verpachtet und daraus Mieteinnahmen erzielt habe, sei nicht entscheidend. Insoweit habe es sich laut Konkursgutachten vom 28.12.1998 um wertlose Gegenstände gehandelt, die keine wesentlichen Betriebsgrundlagen der GmbH gewesen seien.
Es komme auch nicht darauf an, dass die Erwerber die Vermietungstätigkeit der GmbH aufgrund der fristlosen Kündigung des Mietvertrages mit der bisherigen Mieterin nicht hätten fortführen können, da es der Bruchteilsgemeinschaft möglich gewesen sei, die Vermietungstätigkeit ohne Unterbrechung mit einem anderen Mieter rückwirkend weiterzuführen.
Der Haftungsausschluss nach § 75 Abs. 2 AO greife nicht ein, wenn der Erwerber nach Ablehnung des Konkursantrags - wie im Streitfall - das Unternehmen ohne nennenswerte Investitionen weiterführen könne (Urteil des Bundesfinanzhofs - BFH - vom 22.9.1992 VII R 73-74/91, BFH/NV 1993, 215).
Der Haftungsbescheid sei insbesondere auch der Höhe nach rechtmäßig. Es könne dahingestellt bleiben, ob zwischen der GmbH und R - wie das FG in seinem Urteil vom 13.11.2003 14 K 3494/01 angenommen habe - ein Organschaftsverhältnis bestanden habe. Die bestandskräftige Festsetzung der Umsatzsteuer für 1998 müsse der Kläger aufgrund der Betriebsübernahme gegen sich gelten lassen. Die Möglichkeit einer Umsatzsteuerberichtigung der GmbH hinsichtlich möglicherweise ausgefallener Mietforderungen gegen die B-GmbH bestehe nicht.
Der Kläger macht zur Begründung der Revision im Wesentlichen geltend:
Der Haftungsschuldner dürfe nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - (Beschluss vom 29.11.1996 2 BvR 1157/93, BStBl II 1997, 415) entgegen der Rechtsauffassung des FG Einwendungen gegen die Primärschuld erheben. Das FG hätte deshalb sowohl die Möglichkeit einer Umsatzsteuerberichtigung wegen ausgefallener Mietforderungen als auch den Umstand berücksichtigen müssen, dass die Umsatzsteuer für Umsätze bis Oktober 1998 nicht gegenüber der GmbH, sondern gegenüber dem Organträger hätte festgesetzt werden müssen.
Außerdem sei die Umsatzsteuer für einen anderen Betrieb entstanden als den übernommenen. Denn nach den Feststellungen des FG sei ein Vermietungs- oder Verpachtungsunternehmen übernommen worden, während die Umsatzsteuer, für die er haften solle, im Wesentlichen aus dem Verkauf von Backwaren - also einem anderen Betrieb - resultiere.
Ferner sei kein lebendes Unternehmen erworben worden, da die GmbH bei Abschluss des Kaufvertrages den Mietvertrag über die Produktionshalle mit der bisherigen Mieterin wegen deren Insolvenzverfahren fristlos gekündigt habe.
Der Kläger beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Sache an das FG zur erneuten Verhandlung zurückzuverweisen.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
II. Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung - FGO -).
Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass Einwendungen des Klägers gegen die Höhe der Haftungsschuld aufgrund der Bestandskraft der Steuerfestsetzung gegenüber der GmbH unerheblich sind.
1. Nach § 191 Abs. 1 Satz 1 AO kann durch Haftungsbescheid in Anspruch genommen werden, wer kraft Gesetzes für eine Steuer haftet. Wird ein Unternehmen oder ein in der Gliederung eines Unternehmens gesondert geführter Betrieb im Ganzen übereignet, so haftet der Erwerber gemäß § 75 AO u.a. für Steuern, bei denen sich die Steuerpflicht auf den Betrieb des Unternehmens gründet, vorausgesetzt, dass die Steuern seit dem Beginn des letzten, vor der Übereignung liegenden Kalenderjahrs entstanden sind und bis zum Ablauf von einem Jahr nach Anmeldung des Betriebs durch den Erwerber festgesetzt oder angemeldet werden.
a) Der Erwerb "im Ganzen" bedeutet, dass das Unternehmen bzw. der gesondert geführte Betrieb mit seinen wesentlichen Betriebsgrundlagen übergehen muss und der Erwerber dieses bzw. diesen ohne nennenswerte Investitionen fortführen kann (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 7.11.2002 VII R 11/01, BFHE 200, 31, BStBl II 2003, 226). Kann der Betrieb ohne nennenswerte Investitionen fortgeführt werden, steht der Haftung auch nicht entgegen, dass - wie im Streitfall - der Antrag auf Eröffnung des Konkursverfahrens über das Vermögen der Veräußerin mangels Masse abgelehnt worden war (vgl. BFH-Urteil in BFH/NV 1993, 215, unter 2.b).
b) Der Unternehmensbegriff des § 75 AO entspricht dem des § 2 Abs. 1 des Umsatzsteuergesetzes (UStG), so dass auch - wie im Streitfall - die Übereignung steuerpflichtig vermieteter oder verpachteter Grundstücke erfasst wird (vgl. BFH-Entscheidungen vom 10.12.1992 V R 90/92, BFHE 170, 299, BStBl II 1993, 700, und vom 7.3.1996 VII B 242/95, BFH/NV 1996, 726, m.w.N.).
Insoweit steht dem nicht der Einwand des Klägers entgegen, es sei kein "lebendes" Unternehmen übertragen worden, weil das zuständige AG noch zuvor den Antrag auf Konkurseröffnung über das Vermögen der GmbH mangels Masse abgelehnt habe. Denn die Vermietung des Grundstücks konnte ohne weiteres fortgeführt werden.
c) Der Kläger war auch Erwerber i.S. des § 75 AO. Er hat zwar nicht das bebaute Grundstück und die mitverkauften beweglichen Gegenstände, sondern nur das Bruchteilseigentum (§ 1008 des Bürgerlichen Gesetzbuchs) daran erworben. Er hat aber durch den gemeinsamen Abschluss des Kaufvertrages mit den beiden anderen Käufern den Tatbestand des Erwerbs i.S. des § 75 AO gemeinsam mit diesen erfüllt.
Diese gemeinsame Tatbestandsverwirklichung begründet eine Haftung der Miteigentümer als Gesamtschuldner i.S. des § 44 AO. Es ist in Rechtsprechung (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 2.2.1994 II R 7/91, BFHE 173, 306, BStBl II 1995, 300) und Literatur (vgl. z.B. Pahlke/Koenig/Koenig, Abgabenordnung, 2. Aufl., § 44 Rz 10; Klein/Ratschow, AO, 10. Aufl., § 44 Rz 5 und 6; Kruse in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 44 AO Rz 7 und 8; Boeker in Hübschmann/Hepp/ Spitaler, § 44 AO Rz 11) anerkannt, dass eine Gesamtschuld insbesondere durch eine gemeinsame Tatbestandsverwirklichung begründet wird, auch wenn dies im Gesetz nicht ausdrücklich geregelt ist. Nach § 38 AO entstehen Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis, sobald der Tatbestand verwirklicht ist, an den das Gesetz die Leistungspflicht knüpft. Zu den Ansprüchen aus dem Steuerschuldverhältnis gehört gemäß § 37 Abs. 1 AO nicht nur der Steueranspruch, sondern auch der Haftungsanspruch. Deshalb haften mehrere Personen, die einen gesetzlichen Haftungstatbestand gemeinsam verwirklicht haben, als Gesamtschuldner.
2. Es entspricht der Rechtsprechung des BFH und des BVerfG, dass der Haftungsschuldner Einwendungen nicht nur gegen die Haftungsschuld, sondern grundsätzlich auch gegen die Steuerschuld erheben kann, für die er als Haftungsschuldner in Anspruch genommen wird (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 13.1.2005 V R 44/03, BFH/NV 2005, 998, unter II.2.c cc, m.w.N.; BVerfG-Beschluss in BStBl II 1997, 415, unter B.II.2.a).
a) Zwar sind gemäß § 166 AO dem Haftungsschuldner ausnahmsweise Einwendungen gegen die Steuerschuld dann abgeschnitten, wenn diese unanfechtbar gegenüber dem Steuerpflichtigen festgesetzt worden ist und der Haftungsschuldner entweder Gesamtrechtsnachfolger des Steuerschuldners ist oder er rechtlich in der Lage gewesen wäre, den gegen diesen erlassenen Steuerbescheid als dessen Vertreter, Bevollmächtigter oder kraft eigenen Rechts anzufechten.
Diese Voraussetzungen liegen im Streitfall aber nicht vor. Das FG hat nicht festgestellt, dass der Kläger eine Position innegehabt hat, aufgrund deren er befugt gewesen sei, den gegen die GmbH erlassenen Umsatzsteuerbescheid für 1998 anzufechten.
Der Kläger ist auch nicht Gesamtrechtsnachfolger der GmbH. Die Fälle der Gesamtrechtsnachfolge (§ 45 AO) sind gesetzlich abschließend geregelt (vgl. Klein/Ratschow, a.a.O., § 45 Rz 2). Der Fall der Betriebsübernahme i.S. des § 75 AO gehört nicht dazu (vgl. BFH-Urteile vom 28.5.1963 V 224/60 U, BFHE 77, 148, BStBl III 1963, 371, und vom 2.5.1984 VIII R 239/82, BFHE 141, 312, BStBl II 1984, 695).
b) Da das FG von anderen Voraussetzungen ausgegangen ist, ist seine Entscheidung aufzuheben. Die Sache ist nicht spruchreif und deshalb an das FG zurückzuverweisen. Es wird sich im zweiten Rechtsgang mit den Einwendungen des Klägers gegen die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung gegenüber der GmbH auseinandersetzen müssen.
Es wird insbesondere klären müssen, ob die GmbH entsprechend dem Vorbringen des Klägers bis zum 15.10.1998 Organgesellschaft und damit nicht Unternehmerin i.S. des § 2 UStG gewesen ist. In diesem Fall wäre die bis zu diesem Zeitpunkt entstandene Umsatzsteuer zu Unrecht gegenüber der GmbH festgesetzt worden. Darauf kann sich der Kläger berufen, so dass seine Haftung insoweit ausscheiden würde.
3. Das FG wird ggf. auch prüfen müssen, ob eine Haftung für diejenige Umsatzsteuer der GmbH ausscheidet, die auf dem Verkauf von Backwaren beruht.
Nach der Rechtsprechung des BFH ist die Haftung des Erwerbers nicht dadurch eingeschränkt, dass er einen nicht wesentlichen Betriebsbestandteil nicht übernommen hat (vgl. Urteil vom 10.12.1991 VII R 57/89, BFH/NV 1992, 712, unter 4.b).
Auch hat der BFH entschieden, dass für die Haftung nach § 75 AO nicht die Übertragung solcher Grundlagen erforderlich sei, die zu einem früheren, vor der Übernahme liegenden Zeitpunkt zum Betrieb gehört haben, von dem vorherigen Unternehmer aber bereits vor der Übertragung aus irgendeinem Grund veräußert, weggegeben oder sonst aufgegeben sind (vgl. Urteil in BFHE 200, 31, BStBl II 2003, 226, unter 1.).
Etwas Anderes gelte jedoch dann, wenn durch die Einstellung eines Teils der bisherigen unternehmerischen Tätigkeiten die Identität des Unternehmens in Frage gestellt sei. An dieser Identität könne es fehlen, wenn der Unternehmer sein Unternehmen auf einen Kernbestand reduziere und nur diesen an einen Erwerber übereigne (vgl. BFH-Urteil in BFHE 200, 31, BStBl II 2003, 226, unter 1.).
Das FG wird deshalb im zweiten Rechtsgang prüfen müssen, ob der Backwarenverkauf ein wesentlicher Bestandteil des Unternehmens vor der Veräußerung gewesen war und durch die Beschränkung auf die Vermietung und Verpachtung die Identität des ursprünglichen Unternehmens nicht gewahrt worden wäre.
Wäre durch die Einstellung des Backwarenverkaufs ein Identitätsverlust eingetreten, käme eine Haftung für diejenige Umsatzsteuer nicht in Betracht, die auf den vor der Veräußerung aufgegebenen Unternehmensteil entfällt.
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